Wolfgang Proske (Hg.): Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Band 9. NS-Belastete aus dem Süden des heutigen Baden-Württemberg, Kugelberg, Gerstetten 2018, darin: Markus Wolter: Prof. Dr. Eugen Fischer: Die Freiburger Schule des Rassenwahns, S. 66–91.
Wolfgang Proske (Hg.): Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Band 5. NS-Belastete aus dem Bodenseeraum, Kugelberg, Gerstetten 2016, darin: Markus Wolter: Dr. Ludwig Finckh: "Blutsbewusstsein". Der Höri-Schriftsteller und die SS, S. 78–102. Bestellungen der lieferbaren THT-Bände: über unser Antiquariat oder direkt beim Verlag Kugelberg, Gerstetten: http://www.ns-belastete.de/index.html _______
Markus Wolter:Der SS-Arzt Josef Mengele zwischen Freiburg und
Auschwitz.
Ein örtlicher Beitrag zum Banalen und Bösen. In: "Schau-ins-Land",
Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins, 133. Jahrbuch 2014, Freiburg
(2015), S. 149-189. ISSN 1434-2766. Presse: Hermann G. Abmayr: Der schrecklich nette Vater -
Der KZ-Arzt Josef Mengele und seine Verbindungen nach Freiburg. In:
Badische Zeitung, 27. Januar 2015. http://www.badische-zeitung.de/deutschland-1/kz-arzt-josef-mengele-seine-verbindungen-nach-freiburg--99545279.html
„Bin gesund und fühle mich gut.“ - Häftlingspost in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern
I. Ein Häftlingsbrief von Janina Zdrojewska - Frauenlager Auschwitz-Birkenau
Wollte ein Häftling eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers Briefe an Angehörige schreiben, musste er das dafür vorgeschriebene Briefpapier, Umschläge und 12-Pfennig-Briefmarken der Deutschen Reichspost verwenden. In der Regel konnte er dies alles nur auf dem im Lager bestehenden Tauschmarkt 'organisieren', d.h. er musste dafür in der maßgeblichen KZ-„Währung“ bezahlen - mit dem Brot seiner kärglichen Lebensmittelration. Im KZ Auschwitz änderten sich dabei im Laufe der Zeit die genehmigten Schriftträger: von formlosen, uneinheitlichen, unbedruckten Bögen mit Umschlägen zu Beginn (Juni 1940), zu vierseitigen, linierten, vorgedruckten Briefbögen mit vorgedruckten, separaten Umschlägen (Herbst 1940) zu beidseits vorgedruckten Faltbriefen ohne Umschläge, wie sie ab Mitte 1942 in allen KZ nahezu identisch Verwendung fanden. Neben diesen Briefformaten waren auch Vordruckpostkarten für die Häftlingspost zugelassen.
Am Briefschreibetag, in der Regel war es der Sonntag, „erinnerten“ die als Blockälteste eingesetzten Funktionshäftlinge auf Anweisung der Lager-SS die Briefeschreiber daran, in ihren Briefen, ganz gleich in welchem Zustand sie sich befanden und fühlten, die vorgeschriebene Wendung „Ich bin gesund und fühle mich gut“ im Text unterzubringen. Eingedenk der tatsächlichen, auf Vernichtung der Häftlinge zielenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, eingedenk der Dimension und Systematik des Mordens in, wie im Falle von Auschwitz, regelrechten Fabriken des Todes, war dies Teil der Menschenverachtung des gesamten KZ-Systems, dessen Zynismus geplant war und bis in kleinste Details hinein wirkte.
Unabhängig von Herkunft und Sprache der Häftlinge und Postempfänger musste die KZ-Korrespondenz überdies in deutscher Sprache geführt werden. Der deutschen Sprache unkundige Häftlinge waren entsprechend gehalten, ihre Briefe von deutschsprachigen Mithäftlingen schreiben bzw. die Inhalte zuvor übersetzen zu lassen, was es für sie zusätzlich erschwerte, ihren Gedanken und Empfindungen persönlichen Ausdruck zu geben. Zudem mussten sie, wie schon für das Papier und die Briefmarken, auch für das Übersetzen und Schreiben der Briefe an Eltern, Frauen und Männer mit dem Brot ihrer ohnehin unzureichenden Zuteilungen zahlen. Alle überlieferten Häftlingsbriefe weisen auffallend ähnliche, geradezu versatzstückartige Inhalte und spachliche Wendungen auf: Dankesworte für empfangene Sendungen, Freude über empfangene Briefe, Sorgen um die Gesundheit der Angehörigen zu Hause, Beschwichtigungsformeln an die besorgten Eltern und Partner mit dem obligaten Hinweis auf das eigene Wohlergehen. Im Wortsinn vor-geschrieben sind diese Briefe und Karten, sofern sie die strenge Zensur der Lager-SS durchlaufen mussten, um zugestellt zu werden. Die Wirklichkeit des Lagers durfte in ihnen nicht zur Sprache kommen und ist nur zwischen den Zeilen, als Leerstelle, mehr oder weniger vernehmlich. Das Prozedere bestand aus einer systematischen Abfolge gestaffelter Kontrollvorgänge: Der jeweilige Blockälteste, selbst ein Häftling, war dafür verantwortlich, dass die Briefe in Form und Inhalt „vorschriftsmäßig“ geschrieben waren, dass nichts gestrichen war und dass sie keine Flecken aufwiesen. Vom Blockältesten wurden die Briefe, gewissermaßen vorgeprüft, dann an die Häftlingsschreibstube an den Blockführer weitergegeben, wo sie sortiert und nach der Reihenfolge der Häftlingsnummern geordnet und gezählt wurden. Die sortierten Briefe wurden dann der Baracke zugeleitet, in der die SS-Zensoren die Post minutiös in Augenschein nahmen. Die Anzahl der durch den jeweiligen Häftling abgesandten und der eingehenden Briefe wurde sowohl in der Häftlingskartei im Block als auch nochmals in den Registern der SS-Zensur vermerkt. Beanstandete der SS-Zensor einen Brief- oder Karteninhalt, wurden verdächtige Sätze entweder einfach ausgeschnitten, oder ausradiert und übermalt. Der Häftling musste immer damit rechnen, dass bei entsprechenden Inhalten sein Brief einbehalten oder ohne sein Wissen vernichtet wurde; nicht selten wurde er zur „Politischen Abteilung“ bestellt und dort ‚verhört’ und bestraft; oft mit gänzlichem Postverbot.
Nach der "Überprüfung" versahen die Zensoren die von ihnen gelesene Post mit einem Prüf- und /oder Zensurstempel außen und innen auf einer Seite des Briefes: „Geprüft 11 KL Auschwitz“ war zum Beispiel der Text eines solchen Stempelaufdrucks, wobei die Zahl 11 die Nummer des SS-Zensors bezeichnete. Nach den geltenden Bestimmungen durften nichtjüdische KZ-Häftlinge monatlich nur zwei Briefe absenden und zwei Briefe empfangen, was überdies als Strafmaßnahme sehr oft eingeschränkt war.
Jüdische Häftlinge sowie die Angehörigen der „Ostvölker“, d.h. der besetzten Ostgebiete, durften nach Runderlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 30. März 1942 sogar nur einen Brief innerhalb von zwei Monaten schreiben und empfangen. Ab 1943 wurde den jüdischen Häftlingen die Benutzung der im Lager üblichen Briefformulare und Karten gänzlich verboten. Diese Häftlinge erhielten nurmehr Karten mit der nichtssagenden Absender-Angabe: Arbeitslager Birkenau b. Neu-Berun in Oberschlesien. Die SS-Lagerführung verfolgte damit die Absicht, die in den polnischen Ghettos lebende und ebenfalls für die Deportation in die Vernichtungslager vorgesehene jüdische Bevölkerung zu beruhigen. Ein Beweis dafür war die im März 1944 durchgeführte "Briefaktion" für Juden aus dem Ghetto Theresienstadt, die nach Birkenau verbracht worden waren. Am 5. März wurden ihnen ihre Postkarten mit der Anordnung ausgehändigt, spätere Absendedaten - die vom 25. bis 27. März - einzusetzen und ihren Familien und Bekannten Grüße zu übersenden. Die Theresienstädter Häftlinge waren aber in Wirklichkeit schon am 9. März in den Gaskammern ermordet worden.
Vgl. hierzu: Dlugoborski, W. / Piper, F. (Hg.): Auschwitz 1940-1945. Übersetzung ins Deutsche von Jochen August. Band II. Die Häftlinge, Existenzbedingungen, Arbeit und Tod. Oswiecim, Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau 1999, S. 507-519.
Folgende Anordnungen sind beim Schriftverkehr mit Gefangenen zu beachten:
1.) Jeder Schutzhaftgefangene darf im Monat zwei Briefe oder zwei Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. Die Briefe an die Gefangenen müssen gut lesbar mit Tinte geschrieben sein und dürfen nur 15 Zeilen auf einer Seite enthalten. Gestattet ist nur ein Briefbogen normaler Größe. Briefumschläge müssen ungefüttert sein. In einem Briefe dürfen nur 5 Briefmarken à 12 Pfg. beigelegt werden. Alles andere ist verboten und unterliegt der Beschlagnahme. Postkarten haben 10 Zeilen. Lichtbilder dürfen als Postkarten nicht verwendet werden.
2.) Geldsendungen sind gestattet.
3.) Es ist darauf zu achten, daß bei Geld- oder Postsendungen die genaue Adresse, bestehend aus: Name, Geburtsdatum, Gefangenen-Nummer auf die Sendungen zu schreiben ist. Ist die Adresse fehlerhaft, geht die Post an den Absender zurück oder wird vernichtet.
4.) Zeitungen sind gestattet, dürfen aber nur durch die Poststelle des K.L. Auschwitz bestellt werden.
5.) Pakete dürfen nicht geschickt werden, da die Gefangenen im Lager alles kaufen können.
6.) Entlassungsgesuche aus der Schutzhaft an die Lagerleitung sind zwecklos.
7.) Sprecherlaubnis und Besuche von Gefangenen im Konzentrations-Lager sind grundsätzlich nicht gestattet.
Der Lagerkommandant ------------------------------------------------------------------------------------------------
Adressat und Absenderangaben sind mit Tinte geschrieben. Der Brieftext, von der gleichen Hand, ist mit Ausnahme der mit Bleistift geschriebenen Unterschrift ein Kohlepapier-Durchschlag mit spiegelverkehrten und auf dem Kopf stehenden Text-Schatten auf der jeweils gegenüberliegenden Seite und ist von Janina Zdrojewska wohl nicht selbst geschrieben worden, da sie des Deutschen vermutlich nicht mächtig war und der Übersetzungshilfe eines Mithäftlings bedurfte. Die Unterschrift Jaska dagegen ist offenkundig von ihr selbst und in einem zarten Bleistiftstrich ausgeführt.
Polnischer 'Schutzhäftling' im Frauenlager des KZ Auschwitz-Birkenau (11. November 1942 - 25.Oktober 1944); und im KZ Flossenbürg (26.10.1944-1945).
Gefangenennummer 24209 (KZ Auschwitz-Birkenau)
Auschwitz-Birkenau, B Ia, Block 7 (Juni 1943).
Gefangenennummer 58745 (KZ Flossenbürg, Außenlager Goehle-Werk der Zeiss-Ikon AG, Dresden).
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Janina Zdrojewskaist im 2006 veröffentlichten Gedenkbuch des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau unter den rund 16.000 namentlich bekannten und registrierten polnischen Auschwitz–Häftlingen aus dem Distrikt Radom mit folgendem Eintrag zu finden:
[R] Zdrojewska, Janina
born: 26.1.1917 (Opoczno), camp serial number: 24209
remarks: transferred 1944 to KL Flossenbürg, survived.
"TheMemorial Books include information on almost 60 thousand Poles deported to Auschwitz. The contents are based on partially extant archival documents and correspondence with former prisoners and their relatives.
This data is the fruit of years of research by Museum staff and was published from 2000 to 2006 by the Museum in cooperation with the Auschwitz Preservation Society in three Memorial Books."
[Hier:] Memorial Book: [R] “Transporty Polaków do KL Auschwitz z Radomia i innych miejscowości Kielecczyzny 1940-1944" was published in late 2005 and contains information on approximately 16 thousand Poles deported to Auschwitz from the occupation-era Radom District, mainly from the prisons in Radom, Kielce, Tomaszów Mazowiecki, Piotrków, Końskie, Sandomierz, and Pińczów, where they were held after being arrested during roundups, searches, and entrapment operations on the streets, on trains, and at train stations”:
>>> Księga pamięci. Transporty Polaków do KL Auschwitz z Radomia i innych miejscowości Kielecczyzny 1940-1944 Tom. III [Gedenkbuch. Polen-Transporte aus Radom und anderen Orten der Kielce-Region ins KL Auschwitz- Birkenau. Band III]. Pod red.: Franciszek Piper, Irena Strzelecka. Warszawa,;Oświęcim, Towarzystwo Opieki nad Oświęcimiem 2006. ISBN 83-60210-00-4.
Die Serie der Häftlingsnummern für Frauen wurde ab 26. März 1942, dem Datum der ersten Überstellung weiblicher Häftlinge vom Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in das Konzentrationslager Auschwitz (Auschwitz I), bis zur Auflösung der Frauenabteilung von Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) im Januar 1945 kontinuierlich aufsteigend geführt. Aufgrund des Eintrags in der überlieferten Zugangsliste ist dokumentiert, dass Janina Zdrojewska (Häftlingsnummer 24209) aus Opoczno, Distrikt Radom, nach Auschwitz-Birkenau verschleppt wurde, dort am 11. November 1942, morgens um 3 Uhr ankam und als Häftling registriert wurde:
"11. November [1942] Um 3 Uhr werden 75 von der Sipo und dem SD aus Radom in das Lager eingewiesene weibliche Häftlinge eingeliefert. Sie erhalten die Nummern 24153 bis 24227." (Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im KL Auschwitz 1939-1945, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1989, S. 336)
Janina Zdrojeweska war vermutlich Opfer einer der willkürlichen „Befriedungsaktionen“ der Sicherheitspolizei und Wehrmacht im Distrikt Radom: Massenverhaftungen und Exekutionen der örtlichen Bevölkerung in Städten und Dörfern im sogenannten ‚Generalgouvernement’ (vgl.: Robert Seidel: Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939-1945, Paderborn, Schöningh 2006, S. 195 ff.). Als "Schutzhäftling" kam sie ohne Kenntnis von Haftgrund und Haftdauer in das in Auschwitz-Birkenau integrierte Frauenlager (Bereich Ia). Die „Schutzhaft“ basierte auf der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933. Per Erlass vom 25. Januar 1938 wurde sie als eine Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei („Gestapo“) gegen Personen definiert, die nach Ansicht der Nationalsozialisten „durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden“. Konzentrationslagerhaft war zeitlich unbegrenzt und jeder rechtlichen und rechtsstaatlichen Kontrolle entzogen und es konnten keine Rechtsmittel ergriffen werden.
Das Frauenlager in Auschwitz-Birkenau: Zur Buchführung des Massenmords
Die Zahlen, Nummern und Namen der in Auschwitz lebenden und sterbenden registrierten Häftlinge sind durch wenige, zufällig überlieferte "Zugangs-", "Belegstärke-" und "Sterbelisten" zwischen 1941 und 1945 teils dokumentiert; dies im Gegensatz zu den Hunderttausenden der unregistrierten, namenlosen, sofort nach ihrer Ankunft an der Lagerrampe Birkenaus in den Gaskammern unmittelbar Ermordeten.
Im August 1942 war die Frauenabteilung im Stammlager Auschwitz I aufgelöst worden und rund 13.000 weibliche Häftlinge wurden nach Auschwitz-Birkenau in den "Bereich B Ia" überstellt. Vom 26. März 1942, also von der Errichtung des Frauenlagers in Auschwitz I (Blöcke 1-10), bis zum 31. Dezember 1942 waren in Auschwitz bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 27.905 Frauen als Häftlinge registriert. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Situation des Lagers, Krankheiten und der extremen Ernährungs- und Arbeitsbedingungen lebten Ende Dezember 1942 nur noch ungefähr 5400 von ihnen.
Im Verlauf des Jahres 1943 registrierte die SS-Lagerverwaltung 56.000, im Jahr 1944 weitere 47.000, mit aufsteigenden Häftlingsnummern versehene 'Zugänge' im Frauenlager. Von den bis zur Lagerbefreiung 1945 insgesamt rund 400.000 registrierten Häftlingen im Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau waren etwa 133.000 Frauen: überwiegend Jüdinnen (82.000) und Polinnen (31.000), gefolgt von Sinti und Roma, Russinnen und Deutschen.
Laut überlieferter "Belegstärke"- und "Arbeitseinsatzlisten" lebten am 1. Dezember 1942 insgesamt 8232 weibliche Häftlinge in Auschwitz-Birkenau; für den 31. Dezember 1943 wurden 29513 Frauen gezählt, davon galten 8266 als krank bzw. "arbeitsunfähig". Am 20. Januar 1944 waren es 27.053 Frauen, für den 22. August 1944 wurden 39.234 und am 3. Oktober 1944 schließlich das Maximum von 43.462 Frauen zu den Lebenden gerechnet. Tags zuvor war die "Eingliederung" der Jüdinnen aus dem "Durchgangslager" erfolgt. Umfangreiche Verlegungen in andere KZ (Ravensbrück, Flossenbürg, Buchenwald, Auschwitz I) reduzierten die "Belegstärke" bis Ende des Jahres 1944 auf 12692. Anlässlich des letzten Appells vor der Evakuierung von Auschwitz-Birkenau traten am 17. Januar 1945 noch 10.381 weibliche Häftlinge an (Cech: Kalendarium, passim)
Sprache der Täter: "Vollkommen willenlose Gespenster" - Rudolf Höß, verantwortlicher Lagerkommandant 1940-1943/44, über die Häftlinge des Frauenlagers in Auschwitz-Birkenau.
... für die Frauen war alles viel beschwerlicher, viel drückender und fühlbarer, weil die allgemeinen Lebensbedingungen im Frauenlager ungleich schwerer waren. Sie waren noch viel mehr zusammengepfercht, die sanitären, hygienischen Verhältnisse waren bedeutend schlechter. Auch war in das Frauenlager nie eine richtige Ordnung hineinzubekommen, durch die verheerende Überbelegung und deren Folgen von Anfang an. Es war alles viel mehr Masse als bei den Männern. Wenn die Frauen einmal einen gewissen Nullpunkt erreicht hatten, ließen sie sich vollkommen gehen. Als vollkommen willenlose Gespenster wankten sie durch die Gegend, mußten von den anderen überall hingeschoben werden, bis sie dann eines Tages still hinübergingen. Diese wandelnden Leichen waren ein fürchterlicher Anblick." (R.H.: Kommandant in Auschwitz, autobiographische Aufzeichnungen. Stuttgart, DVA 1961, S. 112)
Allein im Frauenlager starben 1943 etwa 31.500 Häftlinge an Hunger und Krankheiten oder wurden vom Lagerpersonal nach fortlaufenden 'Selektionen' mittels Phenolspritzen oder in den Gaskammern ermordet. Die höchste Totenzahl wurde im Dezember 1943 verzeichnet: im Verlauf dieses einen Monats starben in Birkenau 8931 der als Häftlinge registrierten Frauen; davon sind 4247 nach einer Selektion im Lager und im Krankenbau in die Gaskammern getrieben worden. Bei der Befreiung des zuvor evakuierten Lagers am 27. Januar 1945 fand die Rote Armee in den Baracken von Auschwitz-Birkenau noch 5800 kranke und zu Tode erschöpfte, sich selbst überlassene Häftlinge; davon waren 4000 Frauen.
Im Oktober 1944 wurde Janina Zdrojewska zusammen mit 299 weiteren Frauen in das KZ Flossenbürg verlegt und überlebte diesen Transport: im Häftlings-'Zugangsbuch' des KZ Flossenbürg wurde die Einlieferung der 300 Frauen aus Auschwitz am 26.10.1944 nummerisch (Häftlingsnummern 58452-58751) und alphabetisch gelistet. Janina Zdrojewska, jetzt mit der fortlaufenden Gefangenen-Nummer 58745 versehen, wurde mit folgendem Eintrag abermals von der Lagerbürokratie erfasst: "Pol. / Zdrojewski (!) , Janina / Opoczno 21.1.17 / v. Auschwitz / 26.10.44 / 26.10.44 Dresden Zeiss". Von Flossenbürg wurde sie in eines der Flossenbürger Außenlager der Zeiss-Ikon AG, Dresden überstellt; dort sind im Oktober 1944 insgesamt drei Außenlager für weibliche Arbeitshäftlinge des KL Flossenbürg - überwiegend Russinnen und Polinnen - errichtet worden: zwei für die auf Munitionsproduktion umgestellte Zeiss Ikon AG (im Goehle-Werk und in Dresden-Reick), eines in der Universelle Maschinenfabrik. Noch im April 1945 leisteten im Goehle-Werk 684 weibliche Häftlinge unter qualvollen Bedingungen Zwangsarbeit. Über Janina Zdrojewskas weiteres Schicksal als Arbeitshäftling bis zur Evakuierung des Flossenbürger Außenlagers Mitte April 1945 und danach ist nichts bekannt.
Literatur:
Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5.: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. München, Beck 2007.
Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im KL Auschwitz 1939-1945, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1989.
Dlugoborski, W. / Piper, F. (Hg.): Auschwitz 1940-1945. Übersetzung ins Deutsche von Jochen August. Band II. Die Häftlinge, Existenzbedingungen, Arbeit und Tod. Oswiecim, Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau 1999; hier: Irena Strzelecka: Frauen im KL Auschwitz, S. 213-255.
II. Hungerfrühling in Mauthausen - Ein Häftlingsbrief und die Mauthausen-Gedichte von Zdeněk Dvořáček
Gefalteter Vordruckbrief – Außenseite recto:
(Vorgedruckter Text recte, handschriftlicher Text kursiviert)
Konzentrationslager
Mauthausen / Gusen Oberdonau
____________________________
Folgende Anordnungen sind beim Schriftverkehr mit Gefangenen zu beachten:
1.) Jeder Schutzhaftgefangene darf im M o n a t zwei Briefe oder Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. Die Briefe an die Gefangenen müssen gut lesbar mit T i n t e geschrieben sein und dürfen nur 15 Zeilen auf einer Seite enthalten. Gestattet ist nur ein Briefbogen normaler Größe. Briefumschläge müssen ungefüttert sein. In einem Briefe dürfen nur 5 Briefmarken à 12 Pfg. beigelegt werden. Alles andere ist verboten und unterliegt der Beschlagnahme. Postkarten haben 10 Zeilen. Lichtbilder dürfen als Postkarten nicht verwendet werden.
2.) Geldsendungen sind gestattet, doch ist dabei genau Name, Vorname, Geburtsdatum, Häftlingsblock und Stube anzugeben.
3.) Zeitungen sind gestattet, dürfen aber nur durch die Poststelle des K.L. Mauthausen / Gusen bestellt werden.
4.) Lebensmittelpakete sind gestattet. Außer einem Inhaltsverzeichnis sind Beilagen verboten und werden beschlagnahmt.
5.) Entlassungsgesuche aus der Schutzhaft an die Lagerleitung sind zwecklos.
6.) Sprecherlaubnis und Besuche von Gefangenen im Konzentrations-Lager sind grundsätzlich nicht gestattet.
Alle Post, die diesen Anforderungen nicht entspricht, wird vernichtet.
Anlässlich des 40. Jahrestages der Lagerbefreiung kam es am 13.-14. April 1985 in Mariánské Lázně (Marienbad) zu einer Gedenkveranstaltung ehemaliger tschechischer Häftlinge der Konzentrationslager Dachau und Mauthausen. Der damals 70jährige Dvořáček war Mitherausgeber der Gedenkschrift:
Dvořáček, Z. u.a. (Hg.): Pametni tisk k manifestacnímu setkáni bývalých veznu KTD a KTM. 13.-14. dubna 1985 v Mariánských Lázních.
Zusammen mit Frantisek Novák veröffentlichte Dvořáček ferner einen Text über den "Pionier des tschechischen Marxismus", Augustin Radimský:
Dvořáček, Z. / Novák, F.: Augustin Radimský - průkopník marxismu v Čechách. Lomnice nad Popelkou, Městský národní výbor 1979.
Über sein weiteres Leben ist bislang nichts in Erfahrung zu bringen. Für jeden Hinweis bin ich dankbar.
Vermutlich 1997 ist Dvořáček in Prag gestorben und wurde auf dem dortigen Hauptfriedhof begraben.
______________________
Anmerkungen:
*„Schutz“ / „Schutzhaft“, „Politisch“:
Die Schutzhaft basierte auf der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 bzw. auf dem Erlass des Reichsministerium des Innern vom 12./26. April 1934. Per Erlass vom 25. Januar 1938 wurden die bisherigen Richtlinien zum Teil zusammengefasst, zum Teil abgeändert. Eine erweiterte Definition der Schutzhaft, die nicht nur politische Gegner im engeren Sinn umfasste, formuliert § 1, Abs. I :
„Die Schutzhaft kann als Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei zur Abwehr aller volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen gegen Personen angeordnet werden, die durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden.“
Sie war grundsätzlich in staatlichen ‚Konzentrationslagern’ zu vollstrecken, zeitlich unbegrenzt und jeder rechtlichen und rechtsstaatlichen Kontrolle entzogen; gegen Schutzhaftbefehle konnten keine Rechtsmittel ergriffen werden.
„Ursprünglich war dieser Lagerteil für das "Kriegsgefangenen-Arbeitslager Mauthausen-Gusen" vorgesehen. Hier sollten "von der Exekution zurückgestellte" sowjetische Kriegsgefangene untergebracht werden, aus diesem Grund wurde es im Lagerjargon auch "Russenlager" genannt. Von insgesamt 5.333 in den Jahren 1941 und 1942 eingelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen waren am 31. Dezember 1942 nur noch etwa 300-450 am Leben.
Am 14. März 1943 wurden die ersten 684 kranken Häftlinge des Sonderreviers in das ehemalige „Russenlager“, nun als „Krankenlager“ („Sanitätslager“) bezeichnet , überstellt. Anfänglich bestand es aus vier Pferdestallbaracken und wurde sukzessive auf zehn Baracken ausgebaut. Es lag zwischen der Zufahrtsstraße zum Hauptlager, dem SS-Sportplatz und oberhalb der Abhänge des Steinbruchs etwa 500 m vom Stammlagerbereich entfernt und war von einem doppelten Stacheldrahtzaun mit sechs Wachtürmen umgeben, die sich außerhalb der Umzäunung befanden. Flächenmaß des „Krankenlagers“: rund 8.000 qm.. Die hölzernen Pferdestallbaracken waren 40,76 Meter lang und 9,56 m breit. Beidseits an den Enden große Eingangstüren, beiderseits des gebrochenen Daches in der gesamten Länge ca. 40 cm hohe Fenster. In den einzelnen Baracken waren weder Fließwasser noch WC-Anlagen installiert. Die Lüftung erfolgte im Sommer und Winter durch Öffnung beider Türen. Zwischen den beiden Reihen der Krankenbaracken stand ein enges, langezogenes Steingebäude mit „Waschraum“, Toilettenanlagen, Leichenkammer. (Hans Marsalek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 2.1980, S. 176)
Die durch Erkrankung oder Unterernährung „arbeitsunfähig“ gewordenen Häftlinge, die im „Krankenlager“ untergebracht werden sollten, mussten jeweils zu Fuß und nur spärlich bekleidet den Weg aus dem Stammlager gehen. Bei dem „Krankenkager“ handelte es sich um kaum mehr als eine Einrichtung zur Auslagerung ihres Sterbens. Es gab weder nennenswerte medizinische Versorgung noch ein Mindestmaß an hygienischem Standard (in den Wochen vor der Befreiung waren in einem Krankenbett bis zu sechs Häftlinge untergebracht), was zu einer immens hohen Sterblichkeit führte. Neben der kaum vorhandenen Versorgung wurden die Häftlinge des Sanitätslagers auch immer wieder Opfer von "Selektionen": Die Schwächsten wurden zu Beginn etwa durch Herzinjektionen, später durch Vergasung entweder in der Gaskammer oder in der "Euthanasieanstalt" Schloss Hartheim ermordet oder wurden Opfer von durch SS-Ärzte durchgeführten medizinischen Experimenten.“ (a.a.O.)
*** Am 6.3.45 wurde der neue Block 9 des „Sanitätslagers“ bezogen. (vgl. Marsalek: Geschichte des KL Mauthausen, 2. 1980, S. 176).
Zdeněk Dvořáček gehörte in den letzten zwei Monaten vor Befreiung des KLM am 5. Mai 1945 zum Sanitäts-„Personal“ des Häftlingslagers in Block 9, d.h. zu jenen Häftlingen, die dort unter unmenschlichen Verhältnissen und unter ständigem Einsatz ihres Lebens als Häftlingspfleger arbeiteten. (vgl. Marsalek, a.a.O., S. 177). Wo er zwischen Einlieferung 1944 und Anfang März 1945 eingesetzt wurde, ob im Steinbruch oder ob er überhaupt „arbeitsfähig“ war, ist nicht bekannt. Sein zensierter Brief vom Juni 1944 enthält offene Hinweise auf seinen schlechten Gesundheitszustand durch Unterernährung.
Zdeněk Dvořáček lernte während seiner Haft im KZ Mauthausen 1944 den Maler und Zeichner Bohumil Lonek kennen, von dem zwei Zeichnungen (Einband und Frontispiz) den Gedichtzyklus illustrieren und dem er das große Gedicht Letztes Abendmahl widmet. Bohumil Lonek (3. Juni 1903 in Chrudim - 5. Juni 1998 in Prag) studierte 1922-29 an der Akademie der Bildenden Künste in Prag. Als Illustrator, Karikaturist und Landschaftsmaler war er Mitglied des Vereins der ostböhmischen Künstler. Lonek wurde 1944, im selben Jahr wie Dvořáček, als politischer Schutzhäftling nach Mauthausen deportiert, wo er die Befreiung im Mai 1945 erlebte. "In Mauthausen schuf er mit Hilfe bescheidenster Mittel mehr als 100 Zeichnungen und kleine Aquarelle, die in der Tschechischen Kunst zu den künstlerisch wertvollsten Dokumenten gehören, welche sich mit dem Leben im Konzentrationslager auseinandersetzen." Die Gedenkstätte Theresienstadt besitzt die umfangreichste Sammlung von Loneks Arbeiten aus dieser Zeit." (Zu Text und Abbildungen vgl.: Gedenkstätte Theresienstadt / KZ-Gedenkstätte Mauthausen (Hg.): Menschliche Schatten. Lidský stín. Helga Weissova-Hoskova, Bohumil Lonek, Leo Haas. 60 Bilder aus dem Konzentrationslager Mauthausen. Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Baracke 1. 4. Mai 2001-31. Juli 2001. Katalogheft, Wien 2001, S. 6 ff.
Hungerfrühling in Mauthausen - Die Mauthausen-Gedichte von Zdeněk Dvořáček
I
JARO 1945 V MAUTHAUSENU
Každá myšlenka se chví Co zítřek tají? Největší tajemství jak v dobách bájí
rozpřádá lidské sny Zas roste sláva a doba má své hrdiny a víra neustává
Zítřek se blíží a již je nadosah Tu jeden den svou tíží zasáhne jako vrah
Tak zemřel kamarád a umírá jich víc Nechce se umírat takové době vstříc
A je to tak lehké dnes Lidé se hubí Lidé ta podivná směs štvou se do záhuby
Napětí hry stoupá V sázce je celý svět Ručička valí se houpá Vydržet! Vydržet!
II
POSLEDNÍ VEČEŘE B. Lonkovi
Prázdná miska v propadlém klínu Prázdná dlaň kostlivců Záchrana v drobečku chleba Ještě jedna naděje nevyžebraná
Kdo to tu chodí? Je v každém z nás Jde neslyšně Každou hodinu někoho vyprovodí
Vrávovrá kolem sloupů hlava mdlá závratí Pramínek života dosud nevyschl pod okoralou kůží rozpiatou po kostech
Miska pod hlavou bubínek tanečnic Kostnatými prsty vyklepává vrávoravý rytmus srdce Bojácná píseň žežulčina Na moje břicho bubnujte k pochodu bubnujte Na poplach dokud nezmizí pramének světla v mých očích
Nebyl to buben jenom pavučina
Kdo to tu s námi dlí Neviditelný bůžek Je to náš druh ve tváři trochu povadlý jako my nazí na smetišti vlhkých lůžek Tiskne se k nám Nezahříva Chládne Mrazí
Ještě pohybuje rty hlava opilá a ruka v rozmáchnutí Tmí se tmí vzpomínka návratu a v dřevácích tak vratce skáče Blíží se lehkost ticho
Koho to tu potkáváme mezi námi Komu to hledím do očí To není člověk To nejsou lidé To nejsou oči spáče
S kým bojovals tak zoufale Která slova zadusila tvůj hlas Hledám je troufalé hledám je v nás
Umiráš člověče věčnýutrpením Rozdej své tělo Spas nás před hladověním
Yyprav nám poslední večeři kalich krve a chléb těla ať srdce novým tepem udeří ať ožije mysl zmalátnělá
Po trpkém životě chutnáš tak sladce mdle Chtuná tak život v jehož jsi zrcadle?
Chutná tak tělo jako list uvadlé?
Je to přichut’ snů které máš? Nám je třeba něčeho silného něčeho hutného jako kus chleba pro náš boj v budoucnu
Jedno sousto nenasytí Náš hlad roste a nitro napíná Snad je to po požití záhrobní pravdy – pravdy prosté vyrvané smrti ze klína
Žízeň bratří žízeň po krvi a vínu!
Lákáš mě k sobě Jak chutná pokoj, klid? Me nohy obě mé ruce obě utéci chtějí chtějí se bít
Vrátit se, rozumíš? Návrat a pomstít ta léta proklatá Jak se to řekne polsky, rusky nebo jsi Francouz? Revanche, víš … Odplata
Klid Klid Konec utrpení Proč mě tak láká Bít se bít Bodlo a pušku pro vojáka a slabost rozdrtit! Raději ještě sousto Ještě jeden den Nezlob se kamaráde Daruj mi ještě z tvého těla to nejlepší aby mi dodalo síly aby mě přeneslo přes tento čas abych nezaspal
Dej něco, co hlavu vyjasní a vzpruží nohy a napne každý sval Dej mi, co život před smrtí zachrání vždyť tuším již blízký mír Víš, chci se vrátit vrátit se, víš...revenir!
Je to ono neklidné Je to ono jez než vystydne Slyším je bít Slyším bít nitro země Už slyším jít svobodu ke mně
Chutnám, soudruhu, hořké je Vybilo všechnu bídu rány, hlad, zatrpklé naděje to zaklinadlo lidu
Co jsem tvé srdce sněd Jsem závratí zpit Divný příboj se ve mně zved Dvojnásob chce se mi bít
Má pěst’ teď zemí otřese a do všech měst hlas bouři donese jako zvon kovový zvon
III
SETKÁNÍ NA DVOŘE
Dvě bílé nohy sněhobílé a černý dvůr že slušely by dívce nebo víle na haldě kreatur
Oč krásnější je ráz kmenů v lese skácených Zabořit ruce v trsy rmenu poležet na mezích
kde z celého světa sotva bzukot ještě uslyšíš Zde nezní ani srdcí tlukot tu nejtišší je skrýš
V tvé tváři klid a co číst z očí? Snad výčitky i obavy Čekám že něco poví. Ani se neotočí zbaven hladu a únavy
Tam ten je tak cizí chladný a přec je z nás I my můžeme počítati na dny svůj čas
Ulehnem na jeho místo v prachu Snad já snad i ty Vidíš sebe a jsi beze strachu vidíš se ležet zabitý
Jiný straší fialovou tváří plísni pokryvá se břich Kravavou lebkou hnusem stáří ztrnulí v páteřích
chtějí ti zhnusit lidské tělo život a celý svět To vše co v extasi nás uvádělo krásu a lásku chtí ti zprotivět
A živý okouší moc a sílu v utrpení těch jež ponížil Zpíjí se bolestí a smrtí bez rozdílu Zabíjí aby žil
Kam sis to vyšel na procházku? Slunce tě zlákalo? Snění ti vtisklo bílou masku vím tobě se stýskalo ty rozběhl ses pro jednu šťastnou chvíli domů než květy rozpučí a sen tě položil když došly síly osudu v náručí
Mrtvý můj bílý
Psáno v Mauthausenu 1945.
Zdeněk Dvořáček: Hladové jaro v Mauthausenu. Frontispic Bohumila Lonka. Pardubice, Vlastimil Vokolek 1946.
SETKÁNÍ S JAREM V MAUTHAUSENU 1965
V lomu se břízy kadeří a na štěrku tábora se měkce rozprostřely luka Vzpomínky se hrnou do dveří a v řadách pochodují z vrat
Nad russenlágrem kukačka kuká Kolik životů Kolik let kolikrát...
Za každé přátelské slovo tu rozkvétá pampeliška Za každý přátelský pohled sedmikráska To jsou poklady dětí Kladou je na hroby těch které nepoznaly a teď si s nimi vyprávějí... Čím více člověk ztratí tím je bohatší všechno je mu drahé Čím více slábly paže v kamenolomu válečných let tím silnější splétaly řetěz odporu Čím vzdálenější je ta doba tím jsme si blíž
Nad táborem zakukala kukačka Kolik ještě let Umlkla brzy chytračka abychom mohli říci na shledanou Těm kteří tu spí Kteří jsou na dohled
Dieses Gedicht von 1965 blieb bislang ungedruckt. ______________________________________________________________________________________________
Hladové jaro v Mauthausenu- Hungerfrühling in Mauthausen
Übersetzung:
I
Jaro 1945 v Mauthausenu
Frühling 1945 in Mauthausen
Was verbirgt das Morgen? Jeder Gedanke zittert davor Das größte Geheimnis Wie in Zeiten der Sagen
Menschenträume steigen auf Wieder wächst das Gras Und die Zeit hat ihre Helden Und das Glauben hört nicht auf
Der morgige Tag naht Ist schon zum Greifen nah Hier trifft mit seiner Mühsal und Last ein Tag wie ein Mörder
So starb ein Freund Und es sterben ihrer mehr Der Mensch will nicht sterben Und so einer Zeit entgegengehen
Und so leicht ist es heute Die Menschen vernichten sich Die Menschen, sonderbares Gemisch, stürzen ins Verderben Die Spannung des Spiels steigt Im Einsatz ist die ganze Welt Der Zeiger dreht sich, schwankt Durchhalten! Durchhalten!
II Poslední večeře - B. Lonkovi
Das letzte Abendmahl - für Bohumil Lonek
Leerer Napf Im durchbohrten Schoß Leere Handflächen der Gerippe Rettung in der Brotkrume Eine noch nicht erbettelte Hoffnung
Wer geht hier umher? Er ist in jedem von uns Sein Schritt ist lautlos Von Stunde zu Stunde begleitet er jemanden
Er taumelt um die Pfeiler herum Schwindel, Leere Die Quelle des Lebens versiegte bisher nicht Unter der straff über die Knochen gespannten, aufgesprungenen Haut
Der Kopf auf dem Napf Die Trommel der Tänzerinnen Mit den knochigen Fingern klopft er den stockenden Rhythmus des Herzens Angstvoller Kuckucksruf Trommelt auf meinem Bauch Trommelt zum Marsch Trommelt Alarm Solange dieser Lichtstrahl in meinen Augen nicht erlischt
Es war keine Trommel, nur Spinnweben
Wer verweilt hier bei uns Der unsichtbare Götze Er ist unser Gefährte Im Gesicht ein wenig welk Nackt wie wir Auf diesem Kehrichthaufen feuchter Lagerstätten Presst er sich an uns Er wärmt nicht, er kühlt, er lässt uns frösteln
Alles dreht sich im Kopf, noch bewegen sich die Lippen Die Hand hebt sich Immer tiefer verschwindet der Gedanke an die Rückkehr im Dunkeln So unsicher hüpft er in den Holzpantinen Die Leichtigkeit, Stille naht
Wem begegnen wir hier mitten unter uns Wem schaue ich in die Augen Es ist kein Mensch. Es sind keine Menschen Es sind nicht die Augen eines Schlafenden
Mit wem kämpftest du so verzweifelt Welche Worte erstickten deine Stimme Ich suche sie, die Dreisten Ich suche sie in uns
Menschensohn, du stirbst durch ewiges Leiden Verschenke deinen Körper Erlöse uns von dem Hungerleiden
Bereite uns das letzte Abendmahl Den Blutkelch und das Brot des Leibes Möge das Herz neu anfangen zu schlagen Möge die Mutlosigkeit weichen, wir wieder Mut fassen
Nach dem bitteren Leben schmeckst du so fad süßlich Schmeckt das Leben so, in dem du dich widerspiegelst?
Schmeckt der Körper so wie ein Blatt, das verwelkt?
Ist das der Beigeschmack der Träume, die du hast? Wir brauchen etwas Starkes, etwas so Nahrhaftes wie ein Stück Brot Für unseren Kampf in der Zukunft
Ein Bissen sättigt nicht Unser Hunger wächst und unsere Spannung tief im Innern Vielleicht ist das so, nachdem wir die Wahrheit über das Jenseits aufgenommen haben – die simple Wahrheit, die dem Schoß des Todes entrissen wurde
Durst der Brüder Durst auf Blut und Wein!
Du lockst mich zu dir Wie schmeckt der Frieden, die Stille? Meine beiden Beine Meine beiden Arme wollen wegrennen wollen sich schlagen Zurückkehren, verstehst du? Rückkehr und die verfluchten Jahre rächen Wie sagt man es auf Polnisch, Russisch Oder bist du Franzose? Revanche, weißt du … Vergeltung
Stille, Stille, Ende des Leidens Wieso verlockt es mich dazu mich zu schlagen und zu schlagen Das Bajonett und das Gewehr dem Soldaten Und die Schwäche zerstoßen!
Lieber noch einen Bissen Noch einen Tag Sei nicht böse Freund Schenke mir noch von deinem Körper das Beste Um mir die Kraft zu geben Um mich über diese Zeit zu tragen Um den richtigen Augenblick nicht zu verschlafen
Gib mir etwas, was den Kopf frei macht und die Beine frisch und jeden Muskel anspannt Gib mir das, was das Leben vor dem Tod rettet Ich ahne doch schon den nahen Frieden Weißt du, ich will zurückkehren Zurückkehren, weißt du…revenir!
Das ist es Das Unruhige Das ist es Iss, bevor es kalt wird Ich höre es schlagen Ich höre das Erdinnere dröhnen Ich höre schon dieFreiheit mir entgegenkommen
Was ich koste, Genosse, ist bitter Es machte frei von aller Not Wunden, Hunger, von Hoffnung, die verbittert Der Zauberspruch des Volkes
Als ich dein Herz verzehrte Wurde ich taumelnd trunken Da brandete etwas Sonderbares in mir auf Mit doppelter Willenskraft will ich kämpfen.
Meine Faust erbebt jetzt mit der Erde Und in alle Städte dringt Die Stimme des Aufruhrs wie eine Glocke, eine metallene Glocke
III
Setkání na dvoře
Zusammentreffen auf dem Hof
Zwei schneeweiße Füße und der tiefschwarze Hof zu einem Mädchen oder einer Fee würden sie passen auf dieser Halde geschundener Kreatur
Viel schöner ist das Bild umgefallener Stämme im Wald Das Einsinken der Hände im Moos das Ruhen auf der Lichtung Hier, wo du das ganze Weltengetriebe kaum noch hörst Hier, wo nicht einmal das Herz laut klopft hier ist das ruhigste Versteck Diese Stille auf deinem Gesicht und was ist in deinen Augen zu lesen? Vielleicht Vorwürfe und Ängste Ich warte darauf, dass du etwas sagst. Du drehst dich nicht einmal um, befreit von Hunger und Müdigkeit Der dort ist so fremd, so kühl und doch einer von uns Ach, wir können unsere Zeit auf den Tag genau berechnen Wir legen uns an seiner Statt im Staube nieder Vielleicht ich, vielleicht auch du Du siehst dich selbst und hast keine Angst Du siehst dich selbst tot daliegen Der andere flößt Furcht ein mit seinem violetten Antlitz, seinem mit Schimmel bedeckten Bauch Mit blutigem Schädel, mit Ekel vor dem Alter mit starrem Rückgrat Sie wollen dir den menschlichen Körper verekeln, das Leben und die ganze Welt Das alles, was uns in Ekstase geraten ließ, Schönheit und Liebe wollen sie dir verleiden
Und jener, der lebt, kostet Macht und Stärke aus im Leiden derer, die er erniedrigt hat Er berauscht sich an Schmerz und Tod, unterschiedslos tötet er, um zu leben Wohin führte dich dein Spaziergang? Verlockte dich dazu die Sonne? Das Träumen drückte dir eine weiße Maske auf Ich weiß, dich erfüllte ein Sehnen Du stürmtest los um einen Augenblick des Glücks zu haben nach Hause bevor die Blumen erblühen und der Traum legte dich dem Schicksal in die Arme als deine Kräfte dich verließen
Mein weißer Toter
Geschrieben in Mauthausen 1945
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Setkání s jarem v Mauthausenu 1965
Das Treffen mit dem Frühling in Mauthausen 1965
Im Steinbruch wiegen sich die Birken und auf dem Lagerschotter erstrecken sich weiche Wiesen
Die Erinnerungen strömen durch die Tür Und in Reih und Glied wird aus dem Tor marschiert Über dem Russenlager erklingt ein Kuckucksruf
Wie viele Leben Wie viele Jahre wievielmal… Für jedes freundliche Wort blüht da ein Löwenzahn Für jeden freundlichen Blick ein Gänseblümchen Es sind die Schätze der Kinder Sie legen sie auf die Gräber derer, die sie nicht kannten und jetzt unterhalten sie sich mit ihnen… Je mehr ein Mensch verliert Umso reicher ist er, alles ist für ihn kostbar Je schwächer die Arme im Steinbruch der Kriegsjahre wurden Desto stärker verflochten war der Widerstand Je ferner die Zeit zurückliegt Desto näher sind wir einander
Über dem Lager erklang ein Kuckucksruf Wie viele Jahre noch Der schlaue Vogel verstummte schnell Damit wir denen, die hier schlafen so nah, auf Wiedersehen sagen können
Übersetzung: Andrea Marková-Schacher, Brücke/Most-Stiftung zur Förderung der deutsch-tschechischen Verständigung und Zusammenarbeit, Außenstelle Freiburg, Kartäuserstr. 49a, 79102 Freiburg, überarbeitet von Markus Wolter.
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In der „Großen Heidelberger Liederhandschrift“(Codex Manesse), fol. 295r-296v, finden sich als eines der nachgetragenen Textkorpora -ohne Miniatur, Wappen, ausgeführte Initialen und Rubrizierungen 22 Strophen in drei sogenannten Tönen: ein Gotteslob, ein Tagelied und ein fragmentarischer Marienpreis. Eine Vorschrift von alter Hand am Rand von Bl. 295v, Strophe 7, weist sie einem Meister walther von prisach als Autor zu; ebenso der von späterer Hand, wahrscheinlich von Melchior Goldast vorgenommene Kopfzeileneintrag Meister Walther von Prisach zu Beginn des Korpus (fol. 295r). Außerhalb des Codex Manesse sind weder weitere Texte noch weitere Überlieferungsträger des Waltherschen Korpus bekannt. Die Lieder Walthers werden stilgeschichtlich mit dem urkundlich nicht bezeugten, vermutlich schwäbischen Sangspruchdichter Der Marner in Zusammenhang gebracht, dessen Lieder und Sangsprüche zwischen 1220 und 1270 entstanden sind.
Walthers erstes, siebenstrophiges Lied beginn mit einem Lobpreis auf den dreifaltigen Schöpfergott – du vater sun und ouch der geist / mit drin persônen got ân underscheide - und seine wohlgeordnete, im Großen kleine, im Kleinen große, immer aber ehrfurchtgebietende Schöpfung: dem böuc dîn bein, er treit dîn leben in sîner hant, er durch dich arm, du mit im iemer rîche. Sie bilden gleichsam die schöpfungstheologische Voraussetzung für den folgenden moralisch-didaktischen Umriss einer sozialen, personalen Ordnung der Liebe und Freundschaft, welche die Liebenden, Mann und Frau, aber auch den Freund zum Freund auf triuwe (der tugende muoter), mâze, rat und Wahrheit in der Entschiedenheit (nein unde jâ) verpflichtet. Wer dagegen solche moralische Ordnung missachte, laufe Gefahr, als fremder, dunkler Gast aus dem Bezirk des Menschlichen verjagt zu werden und im hellefiur, dem Höllenfeuer, zu enden.
Die folgenden 5 Strophen des Tageliedes (Initium: Ich singe und solte weinen) skizzieren den für diese Liedgattung typischen Verlauf: der Weckruf des Wächterfreundes veranlasst die letzte Umarmung und den Herzenstausch der Liebenden am „Morgen danach“; wahre Liebe ist einmal mehr ein Geschenk der Zeit und also gestundet; sie findet in der Klage über den notwendigen Abschied ihre schmerzliche Erfüllung:
Sîns lebens küneginne
der ritter an sich nâher twanc.
Dâ schuof diu werde minne
von beiden süezen umbevanc.
ein lieber nâher smuc,
ir mündel druc,
ein fluc ir herzen an ein ander dâ
tet kunt ir minne gir,
sî im, er ir:
an dir mîn leben lît, niht anderswâ.
Von den gelieben beiden
wart dâ mit willen unbegert
ein jâmerliches scheiden.
dem riter und der frouwen wert
ir wunneclich gemach
daz scheiden brach
und jach in wandelunge: liebe in leit.
ir herzen wehsel wart
dâ niht gespart.
Diu vart alsô geschach. der tac zu schreit.(fol. 295 v)
Auch die das Korpus beschließenden 10 Strophen des dritten, in Form, Reim und Stilfiguren besonders kunstvollen Tons variieren das Thema des rechten Zusammenlebens; hier in der Betonung und vor dem Hintergrund menschlicher Erlösungsbedürftigkeit: Ich sich und nime war / daz ich sô var / daz gar mir leben unde sin verwirret / unstaete gumpelspil. (fol. 295v) Am Vor-Bild der gottgefälligen Maria müsse sich der in in seinen Begierden, Wirrnissen und in moralischer Unstetigkeit verstrickte Mensch befreien und neu ausrichten.
Autor
Ältere Untersuchungen gingen bislang wie selbstverständlich davon aus, dass es sich bei Walther von Prisach um einen zwischen 1256 und 1300 als Zeuge bzw. Aussteller von insgesam 14 überlieferten Urkunden (Meves 2005, S. 842-849) nachweisbaren Meister (magister) Walther (Waltherus), Schulmeister (scholasticus) von Freiburg handele, dessen Namen zwischen 1256 und bis 1269 noch überwiegend mit dem Zusatz „in (de) Brisaco (Brisacho)“ versehen ist. Er wird 1264 erstmals und ab 1271 durchgängig in den Urkunden mit dem Zusatz meister Walther, der schuolmeister z e V r i b u r g bzw. i n F r i b u r g namhaft, was einen Ortswechsel Walthers ins nahegelegene Freiburg ab 1271 wahrscheinlich macht. Den neuen Forschungsstand fasst Eckart Conrad Lutz vorsichtig zusammen: Auch wenn weder „die Einheit der Person noch die Identität mit dem Dichter [...] nachweisbar“ sind, so sprechen für sie doch „die Geschlossenheit der in den Urkunden greifbaren Führungsgruppen, die Äbte und Grafen, regionalen Adel, Klerus und Patriziat aus beiden Städten, Breisach und Freiburg, einschließen. (Lutz 1999, Sp. 639). Walther erscheint in den überlieferten Urkunden nach den Klerikern, aber vor den Bürgern in den Zeugenlisten. Als gelehrter Leiter (rector puerorum) stand er der erstmals 1250 erwähnten ältesten Lateinschule Freiburgs vor, dem späteren Berthold-Gymnasium (Urkundenregesten siehe: Meves 2005, Nrn. 12, 14); zwischen dem Grafen von Freiburg als Stadt- und Kirchenherrn und der Bürgerschaft. Die Lokalisierbarkeit der Schule verdankt sich im übrigen den Angaben in den erwähnten Urkunden: der Ausstellungsort der Urkunde vom 13. August 1291 – Diz geschach in meister Walthers des schuolmeisters hûs (Meves, Regest Nr. 8)- ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Lateinschule: Sie stand um 1300 in der vorderen „wolfhiuwelin“, der heutigen Herrenstraße: Als nämlich die Äbtissin und der Konvent des Freiburger Klosters St. Clara Walthers Haus in der „Wolfs(h)eule“ posthum an das Zisterzienserinnenkloster [[Güntherstal]] verkauen, heisst es in der Verkaufsurkunde vom 30. Mai 1327, dort „var meister walthers seligen schuole úber“ (vgl. Meves 2005, Regest Nr. 15).
Literatur
Freiburger Urkundenbuch, bearbeitet v. Friedrich Hefele. Bde. 1-3. Freiburg, Kommissionsverlag der Fr. Wagnerschen Universitätsbuchhandlung, 1938-1958.
Kraus, Carl von (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Band I Text. Zweite Auflage. Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1978, S. 575-581; Band II Kommentar. Besorgt von Hugo Kuhn. Zweite Auflage. Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1978, S. 624-626.
Pfaff, Friedrich (Hg.): Die große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) In getreuem Textabdruck hrsg. v. F. Pfaff. Titelausgabe der zweiten, verbesserten und ergänzten Auflage bearbeitet v. Hellmut Salowsky mit einem Verzeichnis der Strophenanfänge und 7 Schrifttafeln. Heidelberg 1995, Sp. 966-972.
Lutz, Eckart Conrad: ‚Walther von Breisach’, mit Bibliographie, in: Stammler, Wolfgang /Langosch, Karl (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 10. Walter de Gruyter 1999, Sp. 639-641.
Meves, Uwe (Hg.): Regesten deutscher Minnesänger des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin, New York, Walter de Gruyter 2005.; hier: ‘Walther von Breisach’, S. 837-849.
Der Colmarer Dominikanerchronist (* 1221; † um 1305 in Colmar) war ein Dominikanermönch in den Ordenskonventen zu Basel und Colmar im 13. Jahrhundert und gilt als anonymer Autor eines bedeutenden historiographisch-chronistischen Werkes.
Leben
Die wenigen bekannten Lebensdaten des anonymen Annalisten sind ausnahmslos Selbstzeugnisse und nur dem chronistischen Werk selbst zu entnehmen: Geboren wurde er demnach im Jahr 1221, trat 1238 in den Dominikanerorden ein, gehörte ab 1260 zum Konvent des Basler Predigerklosters und ab 1278 zum Gründungskonvent des Dominikanerklosters in Colmar (heute 'Bibliothèque de la ville (municipale)'. Unabhängige Quellentexte, die dies bestätigen könnten, existieren nicht bzw. sind nicht überliefert. Das Todesjahr ist ebensowenig bekannt, doch lässt es sich aufgrund des chronlogischen Abbruchs sowohl der sogenannten 'Großen Colmarer Annalen' (Annales Colmarienses maiores) als auch der 'Colmarer Chronik' (Chronicon Colmariense) 1305 erschließen und auf dieses Jahr in etwa festlegen.
Blatt aus den ‚Annales Basileenses’; Fol. 16 der sog. ‚Stuttgarter Handschrift’ (um 1540)
Werküberlieferung
In der von einer insgesamt ungünstigen Überlieferungssituation geprägten Editionsgeschichte der Colmarer Dominikaner-Geschichtsschreibung des 13. Jahrhunderts ist als bedauerlicher Umstand zu verzeichnen, dass das umfangreiche, in mittellateinischer Sprache verfasste Korpus lediglich in Abschriften des 16. Jahrhunderts überliefert ist. Die originale(n) Handschrift(en) aus dem 13. Jahrhundert müssen seit dem 18. Jahrhundert als verloren gelten. Von einem klaren Werkbild kann aufgrund einer von wechselnden Editionsgrundsätzen geprägten Geschichte der Abschriften und Drucklegungen nicht gesprochen werden. So erschien zwar bereits 1585 eine erste Druckfassung durch den Basler Humanisten Christian Urstisius (= Wurstisen) (1544-1588), doch wurden darin ebenso sorglos wie willkürlich zahlreiche Veränderungen am Manuskripttext vorgenommen: Urstisius kürzte die ihm vorliegende Abschrift des ursprünglichen Handschriftentexts nicht nur um etwa ein Drittel, sondern nahm auch sonst eigenmächtige, stilistische wie strukturelle Veränderungen vor. Auch die heute immer noch maßgebliche Druckausgabe, die von Ph. Jaffé im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica, Script. Band XVII, 1861 erfolgte Edition des Colmarer Korpus weist strukturelle Veränderungen gegenüber der Vorlage auf. Wie bereits schon die Urstisius-Ausgabe stützt sie sich auf die um etwa 1540 entstandene, maßgeblich in der Hand des Basler Humanisten Nikolaus Briefer († 1548) überlieferte Abschrift, die nach ihrem späteren Aufbewahrungsort in der Württembergischen Landesbibliothek sogenannte 'Stuttgarter Handschrift' (Signatur: WLB Stuttgart, cod. Hist. 4°,145). Das Original des 13. Jahrhunderts aus der Klosterbibliothek in Colmar muss Briefer offensichtlich als Grundlage gedient haben. Jaffé gliederte das unübersichtliche Gesamtbild der Brieferschen Abschrift editorisch in folgende Werkteile, die er mit eigenen Titeln versah:
* Annales Colmarienses minores, die 'kleinen Kolmarer Annalen' 1211-1298 (Abfassungszeit des Originalmanuskripts vermutlich um 1298).
* Annales Basileenses und Annales Colmarienses maiores, die zwei großen Annalen über die Jahre 1266-1305, synchron zunächst in Basel und ab 1278 in Colmar geführt
* Nichtannalistische Texte um 1300, die Jaffé in einen Text über „Ellsässische Zustände Anfang des 13. Jahrhunderts“ und zwei topographische „Beschreibungen des Elsaß und Deutschlands“ aufteilt.
* Chronicon Colmariense, die 'Kolmarer Chronik' der Jahre 1242-1304, behandelt die Geschichte Rudolfs I: und Albrechts von Habsburg sowie Adolfs von Nassau bis 1304 (Abfassungsbeginn in den 90er Jahren des 13. Jahrhunderts) und gilt als das
Die bislang einzige vollständige Übersetzung des Stuttgarter cod. Hist. 4°,145 ins Deutsche wurde auf Grundlage der MGH-Edition von Hermann Pabst besorgt und erschien 1867 (Folgeauflagen 1897 und 1940).
*In jüngster Vergangenheit wird die Autorschaft des Colmarer Chronisten auch für die bislang dem Dominikaner-Abt Rudolf von Schlettstadt zugeschriebenen, insgesamt 56 (+ 54 weitere in einer Sigmaringer Handschrift, dem Codex 64 der Sigmaringer Hofbibliothek) Wunder-, Geister-, Teufels- und Prophetie-Geschichten diskutiert, deren Überlieferung ebenso nur in Abschriften aus dem 16. Jahrhundert besteht (vgl.: Kleinschmidt, Erich (Hg.): Rudolf von Schlettstadt, Historiae Memorabiles).
Werkbedeutung
Die Werke des Colmarer Chronisten gelten seit Beginn ihrer Editionsgeschichte als nicht nur lokalgeschichtlich bedeutsame Aufzeichnungen, sondern werden zu den wesentlichen geschichtlichen Quellentexte aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gezählt, besonders hinsichtlich ihrer Abschnitte zu Person und Regentschaft Rudolfs I. von Habsburg.
Sie repräsentieren beispielhaft die seit dem 12. Jahrhundert sich abzeichnende "andere" Geschichtsschreibung in der grundsätzlichen Abkehr von konventionell gebundener Historiographie der großen, reichsgeschichtlichen Zusammenhänge hin zu einer eher lokal begrenzten, episodischen, auf mittelbare Informationsquellen (Mönche, Kriegsmänner, fahrende Spielleute) sich stützende Ereignisgeschichte, die Aspekte des Epischen, Anekdotischen und Erbaulichen aufweist. Die chronistischen Schriften des Colmarers zeichnet eine lebendige Fülle von Vorkommnissen und Nachrichten aus, die im Sinne einer Alltagsgeschichte die unmittelbare Umwelt, Erlebniswelt und das Wirklichkeitsverständnis der Menschen jener Zeit und Region plastischer zu vermitteln vermag als die bis dato einzig als „literaturfähig“ geltenden Reichsgeschichten.
Insbesondere die annalistischen Werke des Colmarers, die Annales Colmarienses maiores und Annales Basileenses, bieten in dieser Hinsicht ein buntes, ja verwirrendes Neben- und Nacheinander von selbst Erlebtem oder gerüchteweise nur Gehörtem. Scheinbar wahllos und ohne Gewichtung sammelt der Chronist alle Nachrichten, deren er nur habhaft werden kann. Was ihm dabei irgendwie merk-würdig und interessant zu sein scheint, zeichnet er ohne offenkundigen Versuch sachlicher oder inhaltlicher Ordnung auf: Kaiserkrönungen, Konventsgründungen, Kriegsereignisse, Brandkatastrophen, Belagerungen, Todesfälle in den Reihen des Klerus, Tötungsdelikte in den Reihen der Ritter, Bürger und Bauern, Naturererscheinungen und –katastrophen, Verwüstungen, Beobachtungen aus der heimischen Tier- und Pflanzenwelt, Wetter und Klimaverhätnisse, warme Winter und kalte Sommer, Erntezeiten und Erntegüten, Wein- und Getreidepreise, Nachrichten über Monstra und Krankheiten, diabolische Geschichten und vielerlei Curiosa. Das additive Verfahren des Colmarers berichtet dabei in fast jedem neuen Satz auch ein neues Ereignis oder eine neue Beobachtung und liefert eine gegenseitig konterkarierende Abfolge von alltäglich „Belanglosem“ mit reichsgeschichtlich „Bedeutsamen“:
„1288. Der Abt von Murbach vertrieb aus dem Flecken Gebweiler sämmtliche Edle, weil sie sich gegenseitig auf hinterlistige Weise verwundet haben. Ein Sohn König Rudolfs, der Landgraf des Elsasses und Herzog von Baiern, rastete mit hundert Rossen im Hof der Schwestern unter der Linde zu Kolmar. Am 22. Januar stießen bei Mümpelgard große Schwärme von Vögeln auf einander und lieferten sich eine Schlacht, in welcher nach der Erzählung mehrerer Leute über dreihundert umkamen. In gleicher Weise kamen bei demselben Orte Scharen von zahmen Schweinen zusammen, und töteten sich durch gegenseitige Bisse. Am Tage vor Agathen leuchteten Blitze. Die Juden gaben dem König Rudolf zwanzigtausend Mark, damit er ihnen gegen die von Oberwesel und Boppard Recht verschaffte. In der Stadt Bern besiegte ein Weib einen Mann im Zweikampf. Um der Jungfrau Reinigung kam ein Sturm, der einen großen Wald bei Hohenack von Grund auf verwüstete. König Rudolf sammelte ein Heer, um eine vom Mainzer Erzbischof belagerte Burg zu entsetzen.“ (Annales Colmarienses maiores, zit. nach: Pabst, Hermann (Übers.): a.a.O, S. 59.)
Der dabei enstehende unruhige, ja sprunghafte Charakter der Aufzeichnungen scheint in der Natur dieses Werkes begründet und war mit einiger Sicherheit bereits der Urschrift eigen. Dass der Colmarer häufig zentrale und periphere Geschichtsereignisse des 13. Jahrhunderts gleichgewichtig aufeinander folgen lässt, das scheinbar Belanglose mitunter in epischer Breite behandelt, das überregional Bedeutsame aber nicht selten in lakonischer Knappheit nur eben erwähnt oder völlig übergeht, kann seiner Geschichtsschreibung nur auf den ersten Blick als mangelnde formale wie inhaltliche Stoffbewältigung vorgeworfen werden; bei genauer Hinsicht wird hier ein – wenn auch unbewusster – literarischer Stil prägend, dessen suggestive Kraft den damaligen wie heutigen Leser zu beeindrucken vermag. Die Unbefangenheit narrativen Sammelns machen die Aufzeichnungen des Colmarers wie kaum eine andere Historiographie ihres Jahrhunderts zu einem literarischen Dokument alltäglicher Geschichte: mittelalterliche Lebens- und Denkwirklichkeiten, Wahrnehmungsmuster, regionales wie allgemeines Geschichtsverständnis der Menschen um 1300 und in dieser Region kommen darin exemplarisch zur Sprache.
Archivalische Quellen
* 'Stuttgarter Handschrift' (= S): Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, cod. Hist. 4°. 145, um 1540. * 'Colmarer Handschrift' (=C) (Auszug auf fol. 183v-fol. 188r): Stadtbibliothek Colmar, cod. 248, um 1462/63. * 'Donaueschinger Handschrift', (olim) cod. 704 (=D) (=Auszug aus der redigierten 'Colmarer Chronik' auf fol. 174r – fol. 193v): Württembergische Landesbbibliothek Stuttgart, um 1545.
Gedruckte Quellen
* Kleinschmidt, Erich (Hg.): Rudolf von Schlettstadt. Historiae Memorabiles. Zur Dominikanerliteratur und Kulturgeschichte des 13. Jahrhunderts Köln, Wien, Böhlau Verlag 1974. * Pabst, Hermann: Annalen und Chronik von Kolmar. Nach der Ausgabe der Mon. Germ. übersetzt, in: Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Bd. 75, Leipzig 1867. * Pertz, Georg Heinrich (Hg.): Monumenta Germaniae Historica (=MGH), Scriptores, Tomus XVII, Hannover 1861; darin: Annales Colmarienses minores et maiores, Annales Basileenses, Chronicon Colmariense, ed. Philipp Jaffé, S. 183-270.
Literatur
* Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. v. Wolfgang Stammler, fortgeführt v. Karl Langosch. Hrsg. v. Kurt Ruh u.a. Bd. 1., 'Colmarer Dominikanerchronist', Berlin 1978, Sp. 1295 f.). * Köster, K.: Die Geschichtsschreibung der Kolmarer Dominikaner des 13. Jahrhunderts, in : Schicksalswege am Oberrhein, hg. V. P. Wentzcke, 1952, S. 1-100. * Kleinschmidt, E.: Die Colmarer Dominikaner-Geschichtsschreibung im 13. u. 14. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 28 (1972), S. 371-438.
Weblink
Monumenta germaniae historica digital (Volltextdigitalisat): Scriptores/Script. (in folio)(SS) / Vol. 17 [Annales aevi Suevici] / gehe zu S. 189-270 :
Der nur unter dem Namen [Herr] Steinmar, d. h. ohne Vor- oder Beiname überlieferte Minnesänger aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts gilt als Autor von 14 Liedern, die in die Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse, 308v-310v) Eingang fanden.
Zwar wurden schon früh Versuche unternommen, den Steinmar des Codex Manesse mit einem schwäbischen Ritter Steinmar von Sießen-Stralegg (urk. 1251-1294) gleichzusetzen (zuletzt: Krywalski 1966), doch erweist sich dies bei näherem Besehen als fraglich: Der Sießen-Stralegger Steinmar kann wohl allein schon deshalb nicht der Dichter sein, weil Steinmar in den überlieferten schwäbischen Urkunden nachweislich der Vorname und nicht, wie im Codex Manesse und in den Klingnauer Urkunden, der Geschlechtername des Minnesängers ist (Württembergisches Urkundenbuch, Band IV, (1251), Nr. 1175; Band V, (1259), Nr. 1531) (vgl. www.wubonline.de)
Für eine begründete Favorisierung des Aargauer Ritters sind hingegen die für Berthold Steinmar von Klingnau belegbaren biographischen Bezüge zu Straßburg und das literarisch-personale Umfeld um Walther von Klingen (s.u.) signifikant: So findet sich im Straßburger Münster in der Wandarkatur des nördlichen Seitenschiffes des bereits um 1275 entstandenen Langhauses eine mit Stei[n]mar signierte, 17 cm hohe Relieffigur, die ganz offensichtlich auf Steinmar als den Autor des sogenannten Herbstliedes anspielt, diesen womöglich sogar porträtieren möchte: ein sich dem Trinkgenuss hingebender Mann in kurzem Rock und mit Gürteltasche hält in der Linken eine Kanne und führt mit seiner Rechten einen riesigen, hölzernen Weinbecher zum Mund (vgl. Schultz 1922). Dem ausführenden Steinmetz muss dieses Herbstlied bereits bekannt gewesen sein. Sein Steinmar-Relief im Straßburger Münster ist kenntnisreiche Anspielung und Beleg dafür, dass der Minnedichter Steinmar rezeptionsgeschichtlich vor allem mit diesem "Schlemm- und Trinklied" in Verbindung gebracht und tradiert wurde.
Nun sind aber nur für den Aargauer Ritter Berthold Steinmar von Klingnau biographische Bezüge nachzuweisen, die einen oder mehrere Aufenthalte in Straßburg zwischen 1275 und 1278 wahrscheinlich machen, was die Schaffung der dortigen Reliefskulptur erklären könnte. Zusammen mit seinem Bruder Conrad findet sich Berthold Steinmar in zahlreichen Urkunden der Zeit aus Klingnau, Rheinfelden, Basel, Oetenbach, Beuggen und Säckingen bezeugt, wobei er als Ministeriale des Minnedichters und Edlen Walther von Klingen (urk. 1240 - 1286) in Erscheinung trat. Wie dieser, der in Straßburg begütert war und ein Haus am Münsterplatz besaß, stand Berthold Steinmar in enger Verbindung zu König Rudolf I. von Habsburg (1273-1291), mit dem zusammen er als urkundlicher Zeuge auftrat und in dessen Gefolgschaft er 1278 an der Schlacht auf dem Marchfeld bei Wien gegen Ottokar von Böhmen teilnahm. Dabei führte Steinmars mutmaßlicher Weg von seinem Wohnsitz Klingnau zunächst rheinabwärts über Straßburg nach Mainz, wo sich Rudolfs Truppen 1276 sammelten. Historische Anspielungen in Steinmars Liedern beziehen sich unter anderem auch auf diesen Feldzug.
Werk
Die Literaturgeschichte sieht, pars pro toto, in Steinmars Herbstlied geradezu die Erfindung einer "neuen Sinnlichkeit" der "niederen" Minnedichtung des 13. Jahrhunderts und diese als Gegenentwurf zur höfischen Liedkunst des Hochmittelalters: In der Abkehr vom Ideal der höfischen Minne-Konzeption, des Maßes und der ritterlichen Zucht in der notwendig unerfüllt bleibenden "hohen Liebe" zu einer standesgemäß verheirateten edlen frowe, findet das lyrische Ich Steinmars dabei leidlich und weinselig Trost in den sinnlichen wie irdischen Genüssen, herbstlichen Tafelfreuden und maßloser Völlerei:
Sit si mir niht lonen wilder ich han gesungen vilseht so wil ich prisenden der mir tuot sorgen rat.herbest der des meien wat.vellet von den risen.ich weis wol es ist ein altes mære.dc ein armes minnerlin ist reht ein martere.seht zuo den was ich geweten.wâffen die wil ich lan und wil ins luoder tretten.Herbest under wint dich min.wan ich wil din helfer sin.gegen den glanzen meien.durh dich mide ich sende not.sit dir gebewin ist tot.nim mich tumben leigen.vúr in zeime steten ingesinde.Steimar sich dc wil ich tuon swenne ich nu basbevinde.ob du mich kanst gebrueven wol.wafen ich singe das wir alle werden vol.Herbest nu hoere an min leben.wirt du solt uns vische geben.me danne zehen hande.gense huenr vogel swin.dermel pfawen sunt da sin.win von welschem lande.des gib uns vil und heisse uns schússel schochen.koepfe und schússel wirt von mir untz an den grunterlochen.wirt du la din sorgen sin.wafen ioch muos ein rúwig herze troesten win.Swc du uns gist dc wurze uns wolbc dan man zemase sol.dc in uns werde ein hitze.dc gegen den trunke gange ein dunst.als ein rouch von einer brunst.und dc der man er switze.dc er wêne dc er vaste leke.schaffe dc der munt uns als ein apoteke smeke.er stumme ich von des wines kraftwafen so gúz in mich, wirt durh geselleschaft.Wirt durh mich ein strâze gat.dar uf schaffe uns allen ratmanger hande spise.wines der wol tribe ein rat.hoeret uf der strâze pfat.minen slunt ich prise.mich wúrget niht ein grôssú gans so ichs slinde.herbest trut geselle min noch nim mich zeingesinde.min sêle uf eime rippe stat.waffen dú von dem wîne dar uf gehúppet hat.
„Weil sie mir’s nicht lohnen will, der ich viel gesungen habe, seht, so will ich den rühmen, der mir meine Sorgen nimmt: den Herbst, der das Maienkleid von den Zweigen fallen lässt. Ich weiß wohl, es ist eine alte Geschichte, dass ein armes Minnerlein wahrlich ein Gequälter ist. Seht, solchen wurde ich ähnlich. Oh weh! Die will ich hinter mir lassen und dem Schlemmerleben frönen. Herbst, nimm dich meiner an, denn ich will dein Helfer sein gegen den Maienglanz; durch dich vermeide ich die Liebesqual. Da dir Gebewin gestorben ist, nimm mich tumben Laien an seiner statt zu einem treuen Diener. – Steinmar, sieh, das will ich tun, wenn ich jetzt mehr erfahre, ob du mich wirklich würdigen kannst. - Oh weh! Ich singe, dass wir alle berauscht sein werden. Herbst! Nun höre an mein Leben! Wirt! Du sollst uns Fische geben, mehr als zehnerlei, Gänse, Hühner, Vögel, Schweine; Würste und Pfauen soll es geben, Wein aus welschem Lande. Davon gib uns viel und sag, man soll uns die Schüsseln füllen: Becher und Schüssel werden von mir bis auf den Grund geleert. Wirt! Lass deine Sorgen sein. Oh weh! Doch muss Wein ein betrübtes Herz trösten. Was du uns gibst, das würze uns gut, mehr als das Maß es will, dass uns heiß werde, dass es dem Trank entgegendampft wie Rauch von einem Brand und dass dem Mann der Schweiß in Strömen fließt als wäre er im Badhaus. Mach, dass der Mund uns wie Spezereien schmecke. Verstumme ich durch die Kraft des Weines, weh mir, so gieß mich voll, Wirt, und leiste mir Gesellschaft. Wirt! Durch mich führt eine Straße: darauf schaff uns alle Vorräte, vielerlei Speise, Wein, der ein Mühlrad wohl antreibt, gehört auf den Pfad der Straße. Meinen Hals preise ich! Mich würgt nicht eine große Gans, wenn ich sie verschlinge. Herbst! Mein lieber Freund, mach mich zu deinem Gefolgsmann. Auf einer Rippe steht meine Seele, oh weh, die durch den Wein da drauf gesprungen ist.“
Übersetzung: Markus Wolter
Als erstes Lied eröffnet es das Steinmarsche Corpus im Codex Manesse, dessen Niederschrift auf die Jahre um 1300 fällt; der Miniaturenmaler des Grundstocks greift, wie Jahrzehnte davor bereits der unbekannte Steinmetz zu Straßburg, in seinem Steinmar-"Porträt" auf das Motiv des Herbstliedes zurück (siehe Abbildung) und inszeniert den Dichter in charakteristischer Pose sowohl des sinnenfrohen Zechens als auch, in Personalunion, als Wirt in grün gegürtetem Gewand mit Goldbesatz an Ärmeln und am Hals.
Literatur
Primärliteratur
Pfaff, Friedrich (Hg.): Die große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) In getreuem Textabdruck hrsg. v. F. Pfaff. Titelausgabe der zweiten, verbesserten und ergänzten Auflage bearbeitet v. Hellmut Salowsky mit einem Verzeichnis der Strophenanfänge und 7 Schrifttafeln. Heidelberg 1995, Sp. 994-1005.
Sekundärliteratur
Richard M. Meyer: Steinmar v. Klingnau, Berthold. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Bd. 35, S. 746–748.
Bader, Josef: Das ehemalige sanktblasische Amt Klingenau. Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, ed. Mone. Erster Band. Karlsruhe 1850, S. 452 ff.
Bartsch, Karl (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld, Verlag Huber 1964, S. CVI ff.
Huber, Johann: Die Regesten der ehemaligen Sanktblasier Propsteien Klingnau und Wislikofen im Aargau. Ein Beitrag zur Kirchen- und Landesgeschichte der alten Grafschaft Baden. Luzern, Räber 1878.
Krywalski, D.: Untersuchungen zu Leben und literaturgeschichtlicher Stellung des Minnesängers Steinmar, München 1966.
Lübben, Gesine: "Ich singe daz wir alle werden vol". Das Steinmar-Oeuvre in der Manessischen Liederhandschrift. Stuttgart, Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1994.
Mittler, Elmar / Werner, Wilfried (Hg.): Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. Texte. Bilder. Sachen. Katalog zur Ausstellung 1988. Universitätsbibliothek Heidelberg. Heidelberg, Braus 1988.
Mittler, Otto: Geschichte der Stadt Klingnau 1239-1939, Aarau, Sauerländer 1947, S. 38-46.
Peters, Ursula: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1983; hier: Der Literaturkreis um Walther von Klingen, S. 105-114.
Schultz, Franz: Steinmar im Straßburger Münster. Ein Beitrag zur Geschichte des Naturalismus im 13. Jahrhundert. Mit einer Tafel im Lichtdruck. Berlin, Leipzig, Walter de Gruyter & Co 1922.
Wachinger, Burghart (Hg.): Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Frankfurt a. M., Deutscher Klassiker Verlag 2006, S. 322-41 (Liedtexte Steinmars); 797-806 (Stellenkommentar).
Wachinger, Burghart (Hg.): Die Deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 9, Berlin, New York 1995, [Steinmar]: Sp. 281-284.
Walther, Ingo F. (Hg.): Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hrsg. und erläutert v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit von Gisela Siebert. Frankfurt a. M., Insel 1988.
"Alte Berain über (Stetten und) Schliengen" - Ein bislang unbekanntes Urbar des Klosters und Chorfrauenstiftes Sankt Fridolin in Säckingen, entstanden um 1300.
Du sint du gueter dù min vrowe von Sechingen selber bùwent und hoerent in den hof ze Sliengen. der namen hie nach geschriben stant.
Bandbeschreibung, Paläographie und Erhaltungszustand:
Codex in mittelhochdeutscher Sprache auf Pergament; beidseitig beschrieben. Einbanddecke recto mit späterer Titelaufschrift in schwarzer Tinte: Alte Berain [Rasur: über Stetten] und Schlieng[e]n.
Gebunden in einem mit Rollenstempeln blindgeprägten Schweinsledereinband des 16. Jahrhunderts über Holzdeckeln, mit 3 Doppelbünden und zwei intakten Schließen. 21,5 x 14,5 cm. Stücke: Kompilation von zwei Urbaren bzw. Teilurbaren: das erste fol. 1-17 (um 1300), das zweite fol. 18-34 (um 1320/30), davon 5 Seiten unausgeführt. Schriftspiegel: 16,5 /18,5 x 11,5 cm. Bei der späteren Bindung wurden Seiten verheftet: fol. 28-29 nach fol. 24v; fol. 27 nach fol. 29v; fol. 25 nach fol. 27.
Handschrift in schwarzer bzw. brauner Tinte mit den üblichen Rubrizierungen zu Beginn eines Satzes, Abschnittes und zur Hervorhebung von Eigennamen und Begriffen. Teilweise am unteren Rand vom Schreiber paginiert. Gleichmäßige gotische Minuskel von zwei Hauptschreibern und, im ersten Hauptteil, drei weiteren Händen in teils kursivierten Einschüben; diese nicht rubriziert. Teils leicht schwankend in Größe, Dicke, Zügigkeit und Duktus. Zweite Haupthand von hohem kalligraphischem Niveau. Zumeist doppelte Brechungen der Schäfte, Zierstriche auf den r-Fahnen, Rundung und Brechung nebeneinander, Bogenverbindungen, diakritische Zeichen, st-Ligaturen, keine i-Punkte, sondern teils i-Striche, Kürzel für er-, -er, -en, -em. An den oberen Seitenrändern mitunter Vormerkungen des Schreibers, überdies wenig spätere Randeinträge bzw. Titulierungen zum besseren Auffinden der Liegenschaften im Text. Ein leerer Papierbogen vor- und 1 leere Papierlage nachgebunden.
fol. 1r
Detailansicht fol. 5r
Detailansicht fol. 15v
Erhaltungszustand:
Sowohl hinsichtlich des Einbands als auch der Textblätter von guter bis sehr guter Erhaltung; ohne unleserliche Stellen oder Textverluste. Farbe des Pergaments: Weiß, bräunlich, verschiedene leichte Schattierungen, nur das Deckblatt stärker gebräunt, wohl aufgrund einer einbandlosen Interimszeit. Kräftig in Tintenstrich und Rubrizierung. Einige Schnitte, soweit im Schriftspiegel liegend, von alter Hand noch vor Beschriftung vernäht; um solche Nahtstellen ist herumgeschrieben. An einzelnen Seitenrändern erkennbar sind die nadelfeinen Einstichlöcher des Zirkels bei der Linierung. Anläßlich der Bindung wurden die Ränder beschnitten, teils unter Verlust der Randbemerkungen von späterer Hand.
I Allgemeine Anmerkungen: ‚Urbar’ (‚Berain’)
Der Begriff ‚Urbar’ bzw. ‚Urbarium’ wird aus dem althochdeutschen "urberan" bzw. dem mittelhochdeutschen "erbern" für "hervor bringen" oder "einen Ertrag bringen" abgeleitet. In vielen Regionen sind für diese Verzeichnisse auch die Bezeichnungen Salbuch, Berain, Heberegister, Güterbuch und Zinsrodel geläufig.
Es handelt sich um zu ökonomischen, administrativen oder rechtlichen Zwecken angelegte Verzeichnisse von Liegenschaften, Abgaben und Diensten einer Grundherrschaft (z. B. eines Klosters) oder eine Villikation.
Urbare sind in verschiedenen Formen überliefert: als meterlange Schriftrollen von aneinander genähten Pergamentblättern - Rodel (mittellat. rotulus) genannt -, als Einzelblätter, Pergamenthefte oder -bücher, vom 15. Jh. an zunehmend auf Papier statt Pergament geschrieben.
Bedeutung:
Die frühen Urbare sind oft die einzigen Quellen zur mittelalterlichen Verfassungs-, Siedlungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte sowie zur mittelalterlichen Genealogie und Ortsnamenforschung. Auch sprachgeographisch sind sie bedeutende Belege für die volkssprachlichen Eigenheiten einzelner Regionen zu einer Zeit, als sich der Gebrauch des Deutschen als Schriftsprache gegenüber dem Lateinischen gerade erst zu emanzipieren beginnt:
„Sie werden vom Ende des 13. Jahrhunderts an auch in deutscher Sprache geführt. Als Instrumente der Verwaltung dienen sie auch verhältnismäßig kleinen Grundherrschaften. Deshalb ergeben sie als sprachgeographische Quellenein ziemlich dichtes Ortsnetz. Ihr Sachbereich ist beschränkt, ihr Inhalt ist von „litaneihafter Monotonie“, was die Vergleichbarkeit in der Geographie erhöht. Sie sind meist leicht datierbar und durch ihren Inhalt ohne weiteres lokalisierbar. (...). Die ortsgebundene Bestimmung der Urbare lässt sie besonders nahe an der regionalen Volkssprache stehen. Sonderschreibungen sind häufiger als in anderen Quellen. (...). Daneben verursacht der hohe Anteil von oft nicht mehr verstandenen Namen des öfteren Schreibversuche nach dem Ohr.“ (Werner König: dtv-Atlas zur deutschen Sprache, München 1978, S. 83)
Während sich im frühen und hohen Mittelalter die urbariellen Aufzeichnungen in reinen Besitzlisten und Abgabenverzeichnissen erschöpften, traten im späten Mittelalter an deren Stelle regelrechte Besitzbeschreibungen eines konkreten Wirtschaftssystems (Herrschaft, Amt, Gericht).
II Besondere Anmerkungen
3.1. Das Kloster und Frauenstift Sankt Fridolin in Säckingen:
Das als ‚Seckinga’ gegründete Doppelkloster gilt als eines der ältesten und bedeutendsten Alemannenklöster. Geschichtlicher Abriß: 6./7. Jh. (?): Der irische (?) Missionar St. Fridolin gründet auf der Rheininsel Kirche und Doppelkloster im Auftrag (?) des fränkischen Königs Chlodwig (?). Auf Grund seiner Lage spielt das Kloster eine bedeutende Rolle in der fränkischen und danach der ottonischen Reichspolitik. Das Königskloster erhält umfangreichen Grundbesitz am Hochrhein, Zürichsee und im Lande Glarus. 878: Erste urkundliche Erwähnung, Kaiser Karl III. übereignet das Kloster seiner Gemahlin Richgard. 9./10. Jahrh.: Entstehung einer karolingischen Kirche. 11./12. Jahrh: Aus der Marktgründung des Klosters entwickelt sich die Stadt Säckingen. Das Nonnenkloster wandelt sich später unter der besonderen Gunst des Hauses Habsburg (1173 wird die Schirmvogtei der ganzen Grundherrschaft Säckingen von Kaiser Friedrich Barbarossa an den Grafen Rudolf von Habsburg übertragen) zu einem freiweltlichen Stift adliger Frauen. 1272: Eine Brandkatastrophe vernichtet Stift und Stadt. Das Klosterarchiv und sämtliche Urkunden gehen verloren. 1307: Elisabeth von Bussnang, Äbtissin des "gotzhuses ze Sekingen", wird in den Reichsfürstenstand erhoben. 1806: Aufhebung des Stiftes infolge der Säkularisationen nach dem Pressburger Frieden. Seinen Besitz übernimmt die Domäne des neuen badischen Staates. Das Stiftsarchiv befand sich bis 1806 in einem gewölbten Raum unmittelbar bei der dortigen Stiftskirche. Es wurde unter Zurücklassung für unwichtig gehaltener Teile 1823 nach Freiburg, 1840 nach Karlsruhe überführt, wo Franz Joseph Mone ab 1852 einzelne Urkunden publizierte.
2. Schliengen und Stetten als Dinghöfe des Klosters Säckingen
Die Mehrzahl der Besitzungen des Klosters Säckingen waren in sogenannte Dinghof-Verbände eingegliedert: der Säckinger Berain von 1428 zum Beispiel nennt 11 bzw. 12 Dinghöfe:
Im Argau: Hornussen, Kaisten, Zuzgen, Mettau, Mandach, Sulz, Steinen.
Im Hauensteinischen: Murg, Oberhof, Herrischried
Im Breisgau: Stetten und Schliengen.
Jeder dieser Dinghöfe, zu dem eine Anzahl abhängiger Güter (= Huben) gehörte, war der Mittelpunkt eines größeren Güterkomplexes in rechtlicher und verwaltungstechnischer Hinsicht: rechtlich war er die Stätte des Dinggerichts;verwaltungstechnisch war ein Dinghof die Einsammelstelle der Abgaben der Grundholden.
Nach Orten, zunächst die Besitztümer, die vom Kloster Säckingen im Dinghofverband Schliengen selbst bewirtschaftet wurden, dann jene Liegenschaften, die an Grundholden, Weinbauern, Dienstmänner, Bürger und Ritter, ("her", "eim riter") als Lehen vergeben waren. Innerhalb der Orte nach Namen der Grundholden und deren Anrainer, Lagen, Bebauung (Äcker, Wiesen, Reben, Wald), Größe und Einnahmeart bzw. Einnahmehöhe. Abgabegüter sind Rot- und (selten) Weisswein, Hühner, Gänse, Kapaune, Roggen, Hafer und/oder Geldabgaben: sol.(idus) = Schilling, bzw. ð = Denar, d.i. 'phenning'. Das Urbar schreibt darüber hinaus grundsätzliche, das Lehensverhältnis zwischen Kloster und Grundholden betreffende Vereinbarungen in Art eines 'Weistums' fest, so etwa die Verpflichtung zu Treue- und Wahrheitsschwur und nicht zuletzt zur Dinggerichtsbarkeit dreimal jährlich (siehe unter IV). Unter den vielen im Urbar Genannten - Menschen, die vor 700 Jahren in dieser Region lebten, arbeiteten und starben - befinden sich im übrigen "namenlose" wie "namhafte" : ein Cuenzi Rotfoegelli, eine Elli von Leidinkon, oder ein Bertschi Zunderli werden darin ebenso erwähnt und dokumentiert wie etwa der Minnedichter Johannes Brunwart von Ŏghein (=Auggen) oder die Habsburger Königin Agnes von Ungarn.
Textauszug (eigene Transkription; Zeilenumbrüche des Originals):
Vro Elli von Leidinkon hat
ein Stuk reben lit ŏch an deme Jonzenberge nebent
Johans hegenlis gůte git si ŏch ı viertel R
otz wíns. Des alten vogtes kint von Schophein
hant eín zweitel reben in Kínzen von dem geb
ent si iergelich ein eímer Rotz wins und ein man
werch an dem Redingsberge under des walches gůte
davon gít er ŏch ı eimer vol Rotz wins und ein
matten lit ze Kùtz nebent her Růtliebs gůte da
von gít er iergelich anderhalben eímer Rotz wíns
Vogt Schoernli von Basel hat ein halb manwerch
ze Spirlùchern ze Bellinkon und git davon ier
gelich drithalb viertel Rotz wíns. Her B(erchtolt) von
Nùwenvels hat ein hùs und ı hofstat da sin
Trothùs uf stat und ı wingarten ze Bellinkon
und ander gůt davon sol er ein man
werch bùwen lit ze Bellinkon gegen dem malatz
hùse und sol das bùwen ze allen rechten an des gotz
hùs schaden und uf díe Trotten vertigon und
wirt im des wins der sechste teil. von dem allen
git er iergelich ííí ½ sŏn Rotz wíns und von zw
ein manwerchen reben ze Bellinkon ze Bùggen
brunne nebent miner vrowen gůt von Sechingen."
fol. 5r/v
IV Zur Frage der Datierung:
Der „Alte Berain über (Stetten und) Schliengen“ und der ‚Schliengener Zinsrodel’ (um 1310-1320). Ein Textvergleich.
Der 'Schliengener Zinsrodel' (um 1310-1320)
Die Archivalien des ehemaligen Stiftsarchivs des Klosters Säckingen befinden sich seit dessen Auflösung im Bestand des Generallandesarchivs Karlsruhe.
Mit der Signatur: Urk. Schäfer Rodel-Selekt 44 (frühere Signatur: Urk. 16/34) findet sich auch ein Zinsrodel über Schliengen aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Bei diesem fragmentarisch erhaltenen Urbar (es fehlt offensichtlich der Anfang mit den in Eigenbau bewirtschafteten Gütern des Klosters) handelt es sich um einen echten ‚Rodel’ (lat.: rotulus): eine 14,7 cm breite und 579 cm lange, dicht beschriebene Pergament-Rolle, deren Entstehung aufgrund von Text-, Schrift- und Sprachvergleichen mit anderen Urkunden des Säckinger Stifts und im Schliengener Bann recht genau auf 1310/20 datiert wird. Der Rodel dokumentiert die Klosterbesitztümer und Abgaben im Einzugsbereich des Schliengener ‚Dinghofs’ („die in den hof ze sliengen hoerent“) und gilt überhaupt als der älteste überlieferte Rodel über die Säckinger Klosterbesitzungen im Mittelalter. Infolge ihrer ungünstigen Überlieferung weisen die Säckinger Klosterarchivalien Urkunden nämlich erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, Rodel und Urbare aber erst seit dem 14. Jahrhundert auf. Die früheste Urkunde, die über die Schliengener Besitztümer des Klosters Auskunft gibt, stammt von 1260; ein 'Dinghof' in Schliengen wird urkundlich erstmals 1306 erwähnt (GLA 16/79). Die Hauptüberlieferung der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist in Zinsrodel (GLA Schäfer Rodel-Selekt 44-49) enthalten; die frühesten Urbare in Buchform betreffen die Dinghofverbände im Aargau, sind aber jünger und erheblich knapper als die ältesten Rodel (GLA 66/7157: erstes Viertel des 14. Jahrhunderts, spätere Nachträge; GLA 66/7158: 1342, Nachträge).
Direkte Textvergleiche der beiden Handschriften ergeben nun, dass es sich beim vorliegenden, bislang unbekannten Urbar in seinem ersten Teilstück um eine zumindest zeitnah entstandene Abschrift bzw. Parallelausführung des Schliengener Rodels, wenn nicht gar - und das ist begründet anzunehmen- um dessen noch ältere Vorlage handeln muss. Damit wäre es das älteste, den Schliengener Dinghofverband betreffende urbarielle Verzeichnis, möglicherweise aber überhaupt das älteste überlieferte Säckinger Urbar. Entgegen der sonst geläufigen Annahme, Rodel seien - zeitlich wie genetisch - Vorstufen der in Buchform überlieferten Urbare bzw. hätten als deren Vorlage zu gelten, verhält es sich in diesem Fall ganz offensichtlich umgekehrt: Das Urbar gibt allem Anschein nach den ursprünglicheren Besitzstand des Säckinger Klosters wieder und ist nicht als Kopialbuch des Schliengener Rodels 1310/20 zu betrachten. Es mag einen älteren Rodel als Vorstufe des Urbars gegeben haben, doch ist er nicht überliefert.
Dies zeigen nicht zuletzt die im Rodel gegenüber dem Urbar dokumentierten Fälle von 'Handänderungen', d.h. zahlreiche Besitzstandsänderungen bei den auf Erblehensbasis vergebenen Hofstätten, und lässt sich im einzelnen an vielen Textstellen belegen. So finden sich in beiden Handschriften, ganz abgesehen vom gleichen spät-mittelhochdeutschen Sprachduktus und Lautstand, Schreibweisen und Zeichen, die gleichen Vor- und Nachnamen einzelner Grundholden bzw. deren unmittelbare Nachkommen („des ... seligen Erben“; siehe unten) der Folgegeneration. Ganze Textabschnitte erweisen sich in einem Parallelvergleich im übrigen bis auf geringe Abweichungen und Handänderungen als nahezu identisch. Sie machen eine Entstehung der ersten Hälfte des vorliegenden Urbars um etwa 1300, die des jüngeren zweiten Teilstücks, das in etwa dem "Aktualitätsniveau" des Rodels entspricht, um 1320 wahrscheinlich.
Bestätigt wird dies ferner, wenn extern überlieferte Quellen zwischen 1290 und 1330 berücksichtigt werden: datierte Kauf- und Tauschverträge, Abtretungen und Lehensgüterverschreibungen im Schliengener und Neuenburger Bann, in welchen sich nicht wenige der im Urbar genannten Personen verifizieren lassen.
1. „Alle die hůben es si ze Sliengen ald ze Eggenhein oder swa si ligent die das gotzhus von Seckingen an hoerent und ín den hof ze Sliengen hoerent gebent ze valle das beste hŏbt alder aber 1 lb. phenninge. Dù andern gueter alle gemeínlich alse dicke so sich dù hant endert so gebent si alse vil ze erschatze als des zínses ist dem gotzhuse und ist das von alter des gotzhuses recht und hant es die hůber ie und ie erteiltet und ander erber lùte gevolget uf den eit die ze gegeni warent.“ (a.a.O., Abschnitt XI; eigene Transkription; teilweise zitiert auch in: Friedrich Wilhelm Geier: Die Grundbesitzverhältnisse des Stiftes Säckingen im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1931, S. 40).
2. „Johans hŏwensteins seligen erben hant ein manwerch reben lit an dem Berge nebent dem phade und sùllent das bůwen ze allem rechte und sùllent den win vertigon ze Sliengen ín die trotten, und sol ím (sic!) werden der sechste teil wider und swenne er (sic!) da lesen will so sol er (sic!) an dem abende nach míner frŏwen botten senden und sùllent den essen und trinken geben die wile si da sínt und lit obenan dar an eín manwerch ist sin [übergeschrieben und verbessert:] ir von dem und von anderm guote bůwent si minen frŏwen das vorgenante manwerch.“ (a.a.O., Abschnitt II; eigene Transkription; teilweise zitiert auch in : Friedrich Wilhelm Geier: Die Grundbesitzverhältnisse des Stiftes Säckingen im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1931, S. 32).
3. „So hant die hůber erteilet und ist von alter des gotzhuses recht swer von dem gotzhuse von seckingen lehen hat es si mínre oder me und gelte vil oder weníng das die alle sùllent swern trùwe und warheit und des gotzhuses recht ze sprechende und dristunt in dem jare dar komen ze rechtem gedinge ane gebieten. Die hůber hant ŏch erteilet das mín frŏwen von seckíngen sùllent weder sniden noch erren [= ackern, pflügen] noch enheín achte sùllent tůn dem nidern hofe noch keínen dienst.“ (a.a.O., Abschnitt I; eigene Transkription; teilweise zitiert auch in: Friedrich Wilhelm Geier: Die Grundbesitzverhältnisse des Stiftes Säckingen im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1931, S. 23).
„Alte Berain über (Stetten und) Schliengen“ (eigene Transkription)
1. "Alle die hůben es si ze Sliengen ald ze Eggenhein alder wa si ligent die das gotz(hùs) anhoerent und in den hof ze Sliengen hoerent gebent ze valle das beste hŏbt alder aber ı lb ð. Dù andern gueter ellù gemeinlich als dike se sich dù hant endert so gebent si als vil ze Erschaz als ze zìnse dem gotzhùse und ist das von alters des gotzhùs recht und hant es die hůber ie und ie erteilet und ander erber lùte gevolget uf den eit dìe zegegní waren." (Blatt X, Seite 20)
2. "Johan von Howenstein von Rinwile hat eín manwerch reben lit an dem Berge nebent dem phade und sol das bùwen ze allem rechte und sol den wín antwùrte ze Sliengen an des gotzhùs schaden und sol er den Sechstenteil nemen. Und swenne er da lesen wil das sol er kunden an dem abende der vrowen botten und nach inen senden und sol dien essen und trinken geben alle die wile si da sínt und lit obnan daran ein manwerch von dem und von anderm gůte bùwet er minen vrowen das vorgenante manwerch." (Blatt III, S. 5 f.)
3. "So hant die hůber erteilt und ist von alter des gotzhùses Recht swer von dem gotzhùse ze Sechingen Lehen hat es si minder ald me das díe alle dem Gotzhùs sulen sweren trùwe und warheit und des gotzhùs recht ze sprechenne und dristunt in dem Jare in den hof ze komen ze rechten gedingen an gebieten. Die hůber hant ŏch erteilt das díe vrowen von Sechingen enkeín act sullen tůn níemanne." (Blatt XII, S. 24f.)
Eine Transkription des Urbar-Textes mit Einleitung, Stellenkommentaren und Registern ist erschienen:
Markus Wolter, Das neu aufgefundene, bislang älteste Urbar des Chorfrauenstifts zu Säckingen; in: "Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins" (ZGO), Band 155, Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 2007, S. 121-213; Band 156, Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 2008, S. 591-665.
Ein Mikrofilm des Urbars ist unter der Signatur "Q Privat Nr. 2" im Generallandesarchiv Karlsruhe einsehbar.
vgl.:Eintrag im Marburger Handschriftencensus, eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters: http://www.handschriftencensus.de/
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