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Wolfgang Proske (Hg.): Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Band 9. NS-Belastete aus dem Süden des heutigen Baden-Württemberg, Kugelberg, Gerstetten 2018, darin: Markus Wolter: Prof. Dr. Eugen Fischer: Die Freiburger Schule des Rassenwahns, S. 66–91.

Wolfgang Proske (Hg.): Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Band 5. NS-Belastete aus dem Bodenseeraum, Kugelberg, Gerstetten 2016, darin: Markus Wolter: Dr. Ludwig Finckh: "Blutsbewusstsein". Der Höri-Schriftsteller und die SS, S. 78–102.

Bestellungen der lieferbaren THT-Bände:

über unser Antiquariat oder direkt beim Verlag Kugelberg, Gerstetten:
http://www.ns-belastete.de/index.html

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Markus Wolter: Der SS-Arzt Josef Mengele zwischen Freiburg und Auschwitz. Ein örtlicher Beitrag zum Banalen und Bösen. In: "Schau-ins-Land", Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins, 133. Jahrbuch 2014, Freiburg (2015), S. 149-189. ISSN 1434-2766.

Presse:
Hermann G. Abmayr: Der schrecklich nette Vater - Der KZ-Arzt Josef Mengele und seine Verbindungen nach Freiburg. In: Badische Zeitung, 27. Januar 2015.
http://www.badische-zeitung.de/deutschland-1/kz-arzt-josef-mengele-seine-verbindungen-nach-freiburg--99545279.html

Hermann G. Abmayr: Der lange Schatten des KZ-Arztes. In: Kontext. Wochenzeitung 199, 21. Januar 2015; Beilage in: taz.am wochenende, 24./25. Januar 2015.

http://www.kontextwochenzeitung.de/zeitgeschehen/199/der-lange-schatten-des-kz-arztes-2679.html


Bestellungen: 


- Breisgau Geschichtsverein "Schau-ins-Land", Freiburg Geschäftsstelle: Stadtarchiv Freiburg

Kontakt: http://www.breisgau-geschichtsverein.de/05_Kontakt/Kontakt.html



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Sonderdruck: Markus Wolter: Radolfzell im Nationalsozialismus- Die Heinrich-Koeppen-Kaserne als Standort der Waffen-SS.pdf

Aus: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, Band 129. Ostfildern, Thorbecke 2011, S. 247-286.


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„Bin gesund und fühle mich gut.“ -  Häftlingspost in nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern


I.  Ein Häftlingsbrief von Janina Zdrojewska - Frauenlager Auschwitz-Birkenau

Wollte ein Häftling eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers Briefe an Angehörige schreiben, musste er das dafür vorgeschriebene Briefpapier, Umschläge und 12-Pfennig-Briefmarken der Deutschen Reichspost verwenden. In der Regel konnte er dies alles nur auf dem im Lager bestehenden Tauschmarkt 'organisieren', d.h. er musste dafür in der maßgeblichen KZ-„Währung“ bezahlen - mit dem Brot seiner kärglichen Lebensmittelration. Im KZ Auschwitz änderten sich dabei im Laufe der Zeit die genehmigten Schriftträger: von formlosen, uneinheitlichen, unbedruckten Bögen mit Umschlägen zu Beginn (Juni 1940), zu vierseitigen, linierten, vorgedruckten Briefbögen mit vorgedruckten, separaten Umschlägen (Herbst 1940) zu beidseits vorgedruckten Faltbriefen ohne Umschläge, wie sie ab Mitte 1942 in allen KZ nahezu identisch Verwendung fanden. Neben diesen Briefformaten waren auch Vordruckpostkarten für die Häftlingspost zugelassen.

Am Briefschreibetag, in der Regel war es der Sonntag, „erinnerten“ die als Blockälteste eingesetzten Funktionshäftlinge auf Anweisung der Lager-SS die Briefeschreiber daran, in ihren Briefen, ganz gleich in welchem Zustand sie sich befanden und fühlten, die vorgeschriebene Wendung „Ich bin gesund und fühle mich gut“ im Text unterzubringen. Eingedenk der tatsächlichen, auf Vernichtung der Häftlinge zielenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, eingedenk der Dimension und Systematik des Mordens in, wie im Falle von Auschwitz, regelrechten Fabriken des Todes, war dies Teil der Menschenverachtung des gesamten KZ-Systems, dessen Zynismus geplant war und bis in kleinste Details hinein wirkte. 

Unabhängig von Herkunft und Sprache der Häftlinge und Postempfänger musste die KZ-Korrespondenz überdies in deutscher Sprache geführt werden. Der deutschen Sprache unkundige Häftlinge waren entsprechend gehalten, ihre Briefe von deutschsprachigen Mithäftlingen schreiben bzw. die Inhalte zuvor übersetzen zu lassen, was es für sie zusätzlich erschwerte, ihren Gedanken und Empfindungen persönlichen Ausdruck zu geben. Zudem mussten sie, wie schon für das Papier und die Briefmarken, auch für das Übersetzen und Schreiben der Briefe an Eltern, Frauen und Männer mit dem Brot ihrer ohnehin unzureichenden Zuteilungen zahlen. Alle überlieferten Häftlingsbriefe weisen auffallend ähnliche, geradezu versatzstückartige Inhalte und spachliche Wendungen auf: Dankesworte für empfangene Sendungen, Freude über empfangene Briefe, Sorgen um die Gesundheit der Angehörigen zu Hause, Beschwichtigungsformeln an die besorgten Eltern und Partner mit dem obligaten Hinweis auf das eigene Wohlergehen. Im Wortsinn vor-geschrieben sind diese Briefe und Karten, sofern sie die strenge Zensur der Lager-SS durchlaufen mussten, um zugestellt zu werden. Die Wirklichkeit des Lagers durfte in ihnen nicht zur Sprache kommen und ist nur zwischen den Zeilen, als Leerstelle, mehr oder weniger vernehmlich. Das Prozedere bestand aus einer systematischen Abfolge gestaffelter Kontrollvorgänge: Der jeweilige Blockälteste, selbst ein Häftling, war dafür verantwortlich, dass die Briefe in Form und Inhalt „vorschriftsmäßig“ geschrieben waren, dass nichts gestrichen war und dass sie keine Flecken aufwiesen. Vom Blockältesten wurden die Briefe, gewissermaßen vorgeprüft, dann an die Häftlingsschreibstube an den Blockführer weitergegeben, wo sie sortiert und nach der Reihenfolge der Häftlingsnummern geordnet und gezählt wurden. Die sortierten Briefe wurden dann der Baracke zugeleitet, in der die SS-Zensoren die Post minutiös in Augenschein nahmen. Die Anzahl der durch den jeweiligen Häftling abgesandten und der eingehenden Briefe wurde sowohl in der Häftlingskartei im Block als auch nochmals in den Registern der SS-Zensur vermerkt. Beanstandete der SS-Zensor einen Brief- oder Karteninhalt, wurden verdächtige Sätze entweder einfach ausgeschnitten, oder ausradiert und übermalt. Der Häftling musste immer damit rechnen, dass bei entsprechenden Inhalten sein Brief einbehalten oder ohne sein Wissen vernichtet wurde; nicht selten wurde er zur „Politischen Abteilung“ bestellt und dort ‚verhört’ und bestraft; oft mit gänzlichem Postverbot.  

Nach der "Überprüfung" versahen die Zensoren die von ihnen gelesene Post mit einem Prüf- und /oder Zensurstempel außen und innen auf einer Seite des Briefes:  „Geprüft 11 KL Auschwitz“ war zum Beispiel der Text eines solchen Stempelaufdrucks, wobei die Zahl 11 die Nummer des SS-Zensors bezeichnete. Nach den geltenden Bestimmungen durften nichtjüdische KZ-Häftlinge monatlich nur zwei Briefe absenden und zwei Briefe empfangen, was überdies als Strafmaßnahme sehr oft eingeschränkt war.

Jüdische Häftlinge sowie die Angehörigen der „Ostvölker“, d.h. der besetzten Ostgebiete, durften nach Runderlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 30. März 1942 sogar nur einen Brief innerhalb von zwei Monaten schreiben und empfangen. Ab 1943 wurde den jüdischen Häftlingen die Benutzung der im Lager üblichen Briefformulare und Karten gänzlich verboten. Diese Häftlinge erhielten nurmehr Karten mit der nichtssagenden Absender-Angabe: Arbeitslager Birkenau b. Neu-Berun in Oberschlesien. Die SS-Lagerführung verfolgte damit die Absicht, die in den polnischen Ghettos lebende und ebenfalls für die Deportation in die Vernichtungslager vorgesehene jüdische Bevölkerung zu beruhigen. Ein Beweis dafür war die im März 1944 durchgeführte "Briefaktion" für Juden aus dem Ghetto Theresienstadt, die nach Birkenau verbracht worden waren. Am 5. März wurden ihnen ihre Postkarten mit der Anordnung ausgehändigt, spätere Absendedaten - die vom 25. bis 27. März - einzusetzen und ihren Familien und Bekannten Grüße zu übersenden. Die Theresienstädter Häftlinge waren aber in Wirklichkeit schon am 9. März in den Gaskammern ermordet worden.

Vgl. hierzu: Dlugoborski, W. / Piper, F. (Hg.): Auschwitz 1940-1945. Übersetzung ins Deutsche von Jochen August. Band II. Die Häftlinge, Existenzbedingungen, Arbeit und Tod.  Oswiecim, Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau 1999, S. 507-519.

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Lettre de l'enfer - Meine Anschrift: Block 7. Frauenlager Auschwitz O.S.

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Vorgedruckter Faltbrief, zwei Textseiten, frankiert mit DR-12 Pfennig-Marke, gestempelt am 10.6.1943 / Auschwitz Oberschlesien.

Transkription (vorgedruckte Bestandteile sind recte, handschriftliche Bestandteile kursiviert): 

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[recto]

Konzentrationslager Auschwitz

Folgende Anordnungen sind beim Schriftverkehr mit Gefangenen zu beachten:

1.) Jeder Schutzhaftgefangene darf im Monat zwei Briefe oder zwei Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. Die Briefe an die Gefangenen müssen gut lesbar mit Tinte geschrieben sein und dürfen nur 15 Zeilen auf einer Seite enthalten. Gestattet ist nur ein Briefbogen normaler Größe. Briefumschläge müssen ungefüttert sein. In einem Briefe dürfen nur 5 Briefmarken à 12 Pfg. beigelegt werden. Alles andere ist verboten und unterliegt der Beschlagnahme. Postkarten haben 10 Zeilen. Lichtbilder dürfen als Postkarten nicht verwendet werden.  

2.) Geldsendungen sind gestattet.

3.) Es ist darauf zu achten, daß bei Geld- oder Postsendungen die genaue Adresse, bestehend aus: Name, Geburtsdatum, Gefangenen-Nummer auf die Sendungen zu schreiben ist. Ist die Adresse fehlerhaft, geht die Post an den Absender zurück oder wird vernichtet.

4.) Zeitungen sind gestattet, dürfen aber nur durch die Poststelle des K.L. Auschwitz bestellt werden.

5.) Pakete dürfen nicht geschickt werden, da die Gefangenen im Lager alles kaufen können.

6.) Entlassungsgesuche aus der Schutzhaft an die Lagerleitung sind zwecklos.

7.) Sprecherlaubnis und Besuche von Gefangenen im Konzentrations-Lager sind grundsätzlich nicht gestattet.

                                                                                              Der Lagerkommandant
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Generalgouvernement


Herrn

Jan Zdrojewski

Opoczno

Zjazdowa 1

Krs. Tomaszów Maz.(owiecki).

Distr. Radom

 

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[verso]

Meine Anschrift:

Name: Janina Zdrojewska

geboren am:  21.1.17

Gef.-Nr.: 24209 Block 7

Frauenlager Auschwitz O.S., Postamt 2

____________________________________________________________________________________ 

[Textseite 1]

„Auschwitz, den 1. 6. 43

Liebste Eltern! Briefe, Geld und Pakete

erhalte ich in bester Ordnung und ich

danke Euch sehr schön. Um Eure und

meine Gesundheit bete ich zum Lieben Gott

und glaube, der verlasst uns nicht. Bin ge-

sund und fühle mich gut. Jeder Euer

Brief bringt mir so viel Freude! Ich sehe

dich Mamus beim schreiben. Tatuska mit

gekümmerter Mine und natürlich Stefa.

Nicht wahr? Von den Paketen bin ich

sehr zufrieden und nochmals danke

Euch sehr. Schreibt Ihr viel. Im Garten

blühen bestimmt Blumen und alles ist

schon gross. Januska F. hat geschrieben, dass sie /

[Textseite 2]

seit Dezember bei ihrem Vater ist. Ich sehne

immer mehr nach Euch. Meine liebste Eltern.

Grüsst Ihr bitte Jurek herzlich von mir. Es

freut mich sehr, dass ihm gut geht. Frau (unleserlich)

K. danke schön für Paket(.) auch Tante und Onkel

Kozerawskim. Die letzte küsse ich vielmals.

Vielleicht bekomme ich Paar Worte von ihnen

auch? Schreibt mir ob alle in diesem Hause

gesund sind und wie ihnen geht. Meine,

dass in freien Weilen ihr zusammen seit

und über uns spricht, denn ich bin

ständig mit meinen Gedanken bei Euch.

Stefa, danke Dir schön für die Hilfe zu

Hause. Euch alle küsse ich sehr sehr

herzlich. Eure liebende Jaska.“  

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Adressat und Absenderangaben sind mit Tinte geschrieben. Der Brieftext, von der gleichen Hand, ist mit Ausnahme der mit Bleistift geschriebenen Unterschrift ein Kohlepapier-Durchschlag mit spiegelverkehrten und auf dem Kopf stehenden Text-Schatten auf der jeweils gegenüberliegenden Seite und ist von Janina Zdrojewska wohl nicht selbst geschrieben worden, da sie des Deutschen vermutlich nicht mächtig war und der Übersetzungshilfe eines Mithäftlings bedurfte. Die Unterschrift Jaska dagegen ist offenkundig von ihr selbst und in einem zarten Bleistiftstrich ausgeführt. 

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Janina Zdrojewska 

Geb. : 26.1.1917 in Opoczno, Polen (seit dem deutschen Überfall und der Besetzung Polens 1939: 'Generalgouvernement', Distrikt Radom).

Vater: Jan Zdrojewski ((?)1881-1971, Gastwirt(?)); Mutter: (n.n.) Zdrojewska, Opoczno, Zjazdowa 1.

Schwester (?): Stefania (Stefa) Zdrojewska

Onkel: n.n. Kozerawski, Opoczno.

Tante: n.n. Kozerawska, Opoczno.

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Polnischer 'Schutzhäftling' im Frauenlager des KZ Auschwitz-Birkenau (11. November 1942 - 25.Oktober 1944); und im KZ Flossenbürg (26.10.1944-1945).

Gefangenennummer 24209 (KZ Auschwitz-Birkenau)

Auschwitz-Birkenau, B Ia, Block 7 (Juni 1943).  

Gefangenennummer 58745 (KZ Flossenbürg, Außenlager Goehle-Werk der Zeiss-Ikon AG, Dresden).

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Janina Zdrojewska ist im 2006 veröffentlichten Gedenkbuch des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau unter den rund 16.000 namentlich bekannten und registrierten polnischen Auschwitz–Häftlingen aus dem Distrikt Radom mit folgendem Eintrag zu finden:

[R] Zdrojewska, Janina

born: 26.1.1917 (Opoczno), camp serial number: 24209

remarks: transferred 1944 to KL Flossenbürg, survived.
 

"The Memorial Books include information on almost 60 thousand Poles deported to Auschwitz. The contents are based on partially extant archival documents and correspondence with former prisoners and their relatives.

This data is the fruit of years of research by Museum staff and was published from 2000 to 2006 by the Museum in cooperation with the Auschwitz Preservation Society in three Memorial Books."

[Hier:] Memorial Book: [R]            
 
“Transporty Polaków do KL Auschwitz z Radomia i innych miejscowości Kielecczyzny 1940-1944" was published in late 2005 and contains information on approximately 16 thousand Poles deported to Auschwitz from the occupation-era Radom District, mainly from the prisons in Radom, Kielce, Tomaszów Mazowiecki, Piotrków, Końskie, Sandomierz, and Pińczów, where they were held after being arrested during roundups, searches, and entrapment operations on the streets, on trains, and at train stations”:

>>> Księga pamięci. Transporty Polaków do KL Auschwitz z Radomia i innych miejscowości Kielecczyzny 1940-1944 Tom. III [Gedenkbuch. Polen-Transporte aus Radom und anderen Orten der Kielce-Region ins KL Auschwitz- Birkenau. Band III]. Pod red.: Franciszek Piper, Irena Strzelecka. Warszawa,;Oświęcim, Towarzystwo Opieki nad Oświęcimiem 2006. ISBN 83-60210-00-4.

(vgl: http://en.auschwitz.org.pl / Auschwitz prisoners)

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Die Serie der Häftlingsnummern für Frauen wurde ab 26. März 1942, dem Datum der ersten Überstellung weiblicher Häftlinge vom Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in das Konzentrationslager Auschwitz (Auschwitz I), bis zur Auflösung der Frauenabteilung von Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) im Januar 1945 kontinuierlich aufsteigend geführt. Aufgrund des Eintrags in der überlieferten Zugangsliste ist dokumentiert, dass Janina Zdrojewska (Häftlingsnummer 24209) aus Opoczno, Distrikt Radom, nach Auschwitz-Birkenau verschleppt wurde, dort am 11. November 1942, morgens um 3 Uhr ankam und als Häftling registriert wurde:

"11. November [1942] Um 3 Uhr werden 75 von der Sipo und dem SD aus Radom in das Lager eingewiesene weibliche Häftlinge eingeliefert. Sie erhalten die Nummern 24153 bis 24227."  (Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im KL Auschwitz 1939-1945, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1989, S. 336)

Janina Zdrojeweska  war vermutlich Opfer einer der willkürlichen „Befriedungsaktionen“ der Sicherheitspolizei und Wehrmacht im Distrikt Radom: Massenverhaftungen und Exekutionen der örtlichen Bevölkerung in Städten und Dörfern im sogenannten ‚Generalgouvernement’ (vgl.: Robert Seidel: Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939-1945, Paderborn, Schöningh 2006, S. 195 ff.). Als "Schutzhäftling" kam sie ohne Kenntnis von Haftgrund und Haftdauer in das in Auschwitz-Birkenau integrierte Frauenlager (Bereich Ia). Die „Schutzhaft“ basierte auf der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933. Per Erlass vom 25. Januar 1938 wurde sie als eine Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei („Gestapo“) gegen Personen definiert, die nach Ansicht der Nationalsozialisten „durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden“. Konzentrationslagerhaft war zeitlich unbegrenzt und jeder rechtlichen und rechtsstaatlichen Kontrolle entzogen und es konnten keine Rechtsmittel ergriffen werden.

Das Frauenlager in Auschwitz-Birkenau:  Zur Buchführung des Massenmords

Die Zahlen, Nummern und Namen der in Auschwitz lebenden und sterbenden registrierten Häftlinge sind durch wenige, zufällig überlieferte "Zugangs-", "Belegstärke-" und "Sterbelisten" zwischen 1941 und 1945 teils dokumentiert; dies im Gegensatz zu den Hunderttausenden der unregistrierten, namenlosen, sofort nach ihrer Ankunft an der Lagerrampe Birkenaus in den Gaskammern unmittelbar Ermordeten.

Im August 1942 war die Frauenabteilung im Stammlager Auschwitz I aufgelöst worden und rund 13.000 weibliche Häftlinge wurden nach Auschwitz-Birkenau in den "Bereich B Ia" überstellt. Vom 26. März 1942, also von der Errichtung des Frauenlagers in Auschwitz I (Blöcke 1-10), bis zum 31. Dezember 1942 waren in Auschwitz bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 27.905 Frauen als Häftlinge registriert. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Situation des Lagers, Krankheiten und der extremen Ernährungs- und Arbeitsbedingungen lebten Ende Dezember 1942 nur noch ungefähr 5400 von ihnen.

Im Verlauf des Jahres 1943 registrierte die SS-Lagerverwaltung 56.000, im Jahr 1944 weitere 47.000, mit aufsteigenden Häftlingsnummern versehene 'Zugänge' im Frauenlager. Von den bis zur Lagerbefreiung 1945 insgesamt rund 400.000 registrierten Häftlingen im Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau waren etwa 133.000 Frauen: überwiegend Jüdinnen (82.000) und Polinnen (31.000), gefolgt von Sinti und Roma, Russinnen und Deutschen.

Laut überlieferter "Belegstärke"- und "Arbeitseinsatzlisten" lebten am 1. Dezember 1942 insgesamt 8232 weibliche Häftlinge in Auschwitz-Birkenau; für den 31. Dezember 1943 wurden 29513 Frauen gezählt, davon galten 8266 als krank bzw. "arbeitsunfähig". Am 20. Januar 1944 waren es 27.053 Frauen, für den 22. August 1944 wurden 39.234 und am 3. Oktober 1944 schließlich das Maximum von 43.462 Frauen zu den Lebenden gerechnet. Tags zuvor war die "Eingliederung" der Jüdinnen aus dem "Durchgangslager" erfolgt. Umfangreiche Verlegungen in andere KZ (Ravensbrück, Flossenbürg, Buchenwald, Auschwitz I) reduzierten die "Belegstärke" bis Ende des Jahres 1944 auf 12692. Anlässlich des letzten Appells vor der Evakuierung von Auschwitz-Birkenau traten am 17. Januar 1945 noch 10.381 weibliche Häftlinge an (Cech: Kalendarium, passim)

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Sprache der Täter:  "Vollkommen willenlose Gespenster" - Rudolf Höß, verantwortlicher Lagerkommandant 1940-1943/44, über die Häftlinge des Frauenlagers in Auschwitz-Birkenau.

... für die Frauen war alles viel beschwerlicher, viel drückender und fühlbarer, weil die allgemeinen Lebensbedingungen im Frauenlager ungleich schwerer waren. Sie waren noch viel mehr zusammengepfercht, die sanitären, hygienischen Verhältnisse waren bedeutend schlechter. Auch war in das Frauenlager nie eine richtige Ordnung hineinzubekommen, durch die verheerende Überbelegung und deren Folgen von Anfang an. Es war alles viel mehr Masse als bei den Männern. Wenn die Frauen einmal einen gewissen Nullpunkt erreicht hatten, ließen sie sich vollkommen gehen. Als vollkommen willenlose Gespenster wankten sie durch die Gegend, mußten von den anderen überall hingeschoben werden, bis sie dann eines Tages still hinübergingen. Diese wandelnden Leichen waren ein fürchterlicher Anblick."  (R.H.: Kommandant in Auschwitz, autobiographische Aufzeichnungen. Stuttgart, DVA 1961, S. 112)

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Allein im Frauenlager starben 1943 etwa 31.500 Häftlinge an Hunger und Krankheiten oder wurden vom Lagerpersonal nach fortlaufenden 'Selektionen' mittels Phenolspritzen oder in den Gaskammern ermordet. Die höchste Totenzahl wurde im Dezember 1943 verzeichnet: im Verlauf dieses einen Monats starben in Birkenau 8931 der als Häftlinge registrierten Frauen; davon sind 4247 nach einer Selektion im Lager und im Krankenbau in die Gaskammern getrieben worden. Bei der Befreiung des zuvor evakuierten Lagers am 27. Januar 1945 fand die Rote Armee in den Baracken von Auschwitz-Birkenau noch 5800 kranke und zu Tode erschöpfte, sich selbst überlassene Häftlinge; davon waren 4000 Frauen. 

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Im Oktober 1944 wurde Janina Zdrojewska zusammen mit 299 weiteren Frauen in das KZ Flossenbürg verlegt und überlebte diesen Transport: im Häftlings-'Zugangsbuch' des KZ Flossenbürg wurde die Einlieferung der 300 Frauen aus Auschwitz am 26.10.1944 nummerisch (Häftlingsnummern 58452-58751) und alphabetisch gelistet. Janina Zdrojewska, jetzt mit der fortlaufenden Gefangenen-Nummer 58745 versehen, wurde mit folgendem Eintrag abermals von der Lagerbürokratie erfasst: "Pol. / Zdrojewski (!) , Janina / Opoczno 21.1.17 / v. Auschwitz / 26.10.44 / 26.10.44 Dresden Zeiss". Von Flossenbürg wurde sie in eines der Flossenbürger Außenlager der Zeiss-Ikon AG, Dresden überstellt; dort sind im Oktober 1944 insgesamt drei Außenlager für weibliche Arbeitshäftlinge des KL Flossenbürg - überwiegend Russinnen und Polinnen - errichtet worden: zwei für die auf Munitionsproduktion umgestellte Zeiss Ikon AG (im Goehle-Werk und in Dresden-Reick), eines in der Universelle Maschinenfabrik. Noch im April 1945 leisteten im Goehle-Werk 684 weibliche Häftlinge unter qualvollen Bedingungen Zwangsarbeit. Über Janina Zdrojewskas weiteres Schicksal als Arbeitshäftling bis zur Evakuierung des Flossenbürger Außenlagers Mitte April 1945 und danach ist nichts bekannt.

Literatur: 

Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 5.: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. München, Beck 2007.

Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im KL Auschwitz 1939-1945, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1989.

Dlugoborski, W. / Piper, F. (Hg.): Auschwitz 1940-1945. Übersetzung ins Deutsche von Jochen August. Band II. Die Häftlinge, Existenzbedingungen, Arbeit und Tod. Oswiecim, Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau 1999; hier: Irena Strzelecka: Frauen im KL Auschwitz, S. 213-255.    

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II.  Hungerfrühling in Mauthausen - Ein Häftlingsbrief und die Mauthausen-Gedichte von Zdeněk Dvořáček 



Gefalteter Vordruckbrief – Außenseite recto:

 

(Vorgedruckter Text recte, handschriftlicher Text kursiviert)

 

Konzentrationslager

Mauthausen / Gusen Oberdonau

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Folgende Anordnungen sind beim Schriftverkehr mit Gefangenen zu beachten:

1.)    Jeder Schutzhaftgefangene darf im  M o n a t  zwei Briefe oder Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. Die Briefe an die Gefangenen müssen gut lesbar mit  T i n t e  geschrieben sein und dürfen nur 15 Zeilen auf einer Seite enthalten. Gestattet ist nur ein Briefbogen normaler Größe. Briefumschläge müssen ungefüttert sein. In einem Briefe dürfen nur 5 Briefmarken à 12 Pfg. beigelegt werden. Alles andere ist verboten und unterliegt der Beschlagnahme. Postkarten haben 10 Zeilen. Lichtbilder dürfen als Postkarten nicht verwendet werden.

2.)    Geldsendungen sind gestattet, doch ist dabei genau Name, Vorname, Geburtsdatum, Häftlingsblock und Stube anzugeben.

3.)    Zeitungen sind gestattet, dürfen aber nur durch die Poststelle des K.L. Mauthausen / Gusen bestellt werden.

4.)    Lebensmittelpakete sind gestattet. Außer einem Inhaltsverzeichnis sind Beilagen verboten und werden beschlagnahmt.

5.)    Entlassungsgesuche aus der Schutzhaft an die Lagerleitung sind zwecklos.

6.)    Sprecherlaubnis und Besuche von Gefangenen im Konzentrations-Lager sind grundsätzlich nicht gestattet.

Alle Post, die diesen Anforderungen nicht entspricht, wird vernichtet.

                                                                            Der Lagerkommandant.

 

[Darauf Zensur-Stempelaufdruck:]

Poststelle K.L.M. zensiert /

[mit rotem Buntstift handschrifliches] Zensor-Zeichen

 

[Adress-Feld, Bleistift]

 

12-Pfennig-Briefmarke Deutsches Reich, gestempelt: Mauthausen 21.6.44-12 

 

[von der Hand des Empfängers, Bleistift:] čevren [tschech., Juni]

 

an Herrn

 

Cyrill Dvořáček

Obergerichtskontrolor

Brünn

Talgasse 107 – Mähren 

 

[Außenseite verso /  Absender-Feld, Bleistift]

 

Meine Anschrift:

Name: Dvořáček,  Zdeněk, # 59360

 

geboren am: 4.3.15

Block 12

Stube A 

 

[Brief-Innenseite / Textfeld, Bleistift]

 

(1)

 

                                                           Mauthausen / Gusen, den 18. Juni 1944.

 

Teure Eltern, Bruder und alle andere!

Euere Briefe haben mich sehr erfreut, alles habe ich

bekommen. Ich komme an die Reihe mit

Schreiben immer nach 4 Wochen, mit einem zufälligen

Aufhalten müsst Ihr auch rechnen.  Ich danke Euch

allen herzlich, daß Ihr so viel für mich sorgt.

Die letzte Sendung ist Mittwoch angelangt, andere

entweder Samstag oder Montag, z.b. nach Pfingsten, die

mit Eiern. Eines konnte ich noch essen. [Rasur: Die] Wirkung

der guten Sachen ist auch sichtbar. [Rasur und Übermalung eines

ganzen Satzes mit rotem Buntstift durch die SS-Lagerzensur] Mami

ich bin sehr besorgt über Deine Gesundheit, da ich mir alles

gut vorstellen kann. Du mußt Dich mehr schonen. Ich

weiß, wie Du mich lieb hast. Ich Dich ebensoviel, ich ver-

weile oft mit Dir im Geist. Aber lieber will ich gar

 

(2)

 

kein Packet, als daß Du Dich deswegen martern solltest.

Brot habe ich 2 x erhalten. Tante vielen Dank. Und wenn

Du Eingekochtes, oder was zu Hause übrig hast, dazu gibst,

machst Du mir Freude genug. Ich bitte Euch, Bruder, Bori [?],

Tante u. insofern auch Vater kann, macht was Ihr könnt,

und schaut auf unsere Mama, damit Sie sich schone,

denn Sie ist das Teuerste, was wir haben! – Ich sollte Euch

alles von Marburg zurückschicken, weil ich da nichts davon brauche.

Bin hübsch angezogen. Wollweste habe ich auch gefasst. Für Winter

kannst mir dann Wäsche u.a. senden. Bücher u. Gelegenheit

zum Studieren ist genug, ich nütze jedoch jede Weile zum

Spaziergang auf Sonne u. frischer Luft aus. Die Arbeit ist

tatsächlich meinen Kräften u. Fähigkeiten angemessen. Seid

allgemein zufrieden! u. ruhig. Richtet mein tiefes Mitleid der Tante

aus. Allen viel Glück u. Gesundheit! Großvater freut sich freilich

über die Familie! Überall Grüße. Euch küßt dankbar Euer Zdenek   

 

Zdeněk Dvořáček

geboren am 4.3.1915 in Brünn

Tschechischer ‚Schutzhäftling’* und Überlebender des Konzentrationslagers Mauthausen, 1944/45

 

Häftlingsnummer: 59360

 
_____________________________________________________________________________________________

Zusammenfassung der Quelleninformationen (Originalzitate aus den überlieferten Lager-Dokumenten sind durch Fettdruck hervorgehoben):

Familienname: Dvořáček

Vorname: Zdeněk


Geburtsdatum: 4.3.[19]15

Geburtsort: Brünn

Beruf: Beamter

Häftlingsnummer: 59360

Häftlingsart: Tsch.[echischer] Schutz [Schutz Häftling]*

 
Einlieferungsdatum: 24. März 1944

Unterbringung: Block 13 (bei Einlieferung) ; Block 12, Stube A, lt. Häftlingsbrief vom Juni 1944.

Überstellung: SL** [Sanitätslager](am 06.03.45*** oder bereits früher?)

Arbeitseinsatz: S.L. Personal (6.3.1945***)

Befreiungsdatum: 5. Mai 1945

 

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Angaben: 

Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

BM.I, Abteilung IV/7

Postfach 100

A - 1014 Wien

Internet: http://www.mauthausen-memorial.at


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Zdeněk Dvořáček veröffentlichte ein Jahr nach der Befreiung seinen aus drei Gedichten bestehenden Mauthausen-Zyklus:

Zdeněk Dvořáček: Hladové jaro v Mauthausenu. Frontispic Bohumila Lonka (Kresba z Mauthausenu). Pardubice, Vlastimil Vokolek 1946. 

Er wurde bislang in keine andere Sprache übersetzt und wird im Folgenden erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

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Anlässlich des 40. Jahrestages der Lagerbefreiung kam es am 13.-14. April 1985 in Mariánské Lázně (Marienbad) zu einer Gedenkveranstaltung ehemaliger tschechischer Häftlinge der Konzentrationslager Dachau und Mauthausen. Der damals 70jährige Dvořáček war Mitherausgeber der Gedenkschrift:

Dvořáček, Z.  u.a. (Hg.): Pametni tisk k manifestacnímu setkáni bývalých veznu KTD a KTM. 13.-14. dubna 1985 v Mariánských Lázních.

Zusammen mit Frantisek Novák veröffentlichte Dvořáček ferner einen Text über den "Pionier des tschechischen Marxismus", Augustin Radimský:

Dvořáček, Z. / Novák, F.: Augustin Radimský - průkopník marxismu v Čechách. Lomnice nad Popelkou, Městský národní výbor 1979.

 

Über sein weiteres Leben ist bislang nichts in Erfahrung zu bringen.  Für jeden Hinweis bin ich dankbar.

Vermutlich 1997 ist Dvořáček in Prag gestorben und wurde auf dem dortigen Hauptfriedhof begraben.

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Anmerkungen:

*„Schutz“ / „Schutzhaft“, „Politisch“:

Die Schutzhaft basierte auf der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 bzw. auf dem Erlass des Reichsministerium des Innern vom 12./26. April 1934. Per Erlass vom 25. Januar 1938 wurden die bisherigen Richtlinien zum Teil zusammengefasst, zum Teil abgeändert. Eine erweiterte Definition der Schutzhaft, die nicht nur politische Gegner im engeren Sinn umfasste, formuliert § 1, Abs. I :

„Die Schutzhaft kann als Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei zur Abwehr aller volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen gegen Personen angeordnet werden, die durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden.“

Sie war grundsätzlich in staatlichen ‚Konzentrationslagern’ zu vollstrecken, zeitlich unbegrenzt und jeder rechtlichen und rechtsstaatlichen Kontrolle entzogen; gegen Schutzhaftbefehle konnten keine Rechtsmittel ergriffen werden.

** 'Krankenlager' / Sanitätslager' / 'Russenlager':

„Ursprünglich war dieser Lagerteil für das "Kriegsgefangenen-Arbeitslager Mauthausen-Gusen" vorgesehen. Hier sollten "von der Exekution zurückgestellte" sowjetische Kriegsgefangene untergebracht werden, aus diesem Grund wurde es im Lagerjargon auch "Russenlager" genannt. Von insgesamt 5.333 in den Jahren 1941 und 1942 eingelieferten sowjetischen Kriegsgefangenen waren am 31. Dezember 1942 nur noch etwa 300-450 am Leben.

Am 14. März 1943 wurden die ersten 684 kranken Häftlinge des Sonderreviers in das ehemalige „Russenlager“, nun als „Krankenlager“ („Sanitätslager“) bezeichnet , überstellt. Anfänglich bestand es aus vier Pferdestallbaracken und wurde sukzessive auf zehn Baracken ausgebaut. Es lag zwischen der Zufahrtsstraße zum Hauptlager, dem SS-Sportplatz und oberhalb der Abhänge des Steinbruchs etwa 500 m vom Stammlagerbereich entfernt und war von einem doppelten Stacheldrahtzaun mit sechs Wachtürmen umgeben, die sich außerhalb der Umzäunung befanden. Flächenmaß des „Krankenlagers“: rund 8.000 qm.. Die hölzernen Pferdestallbaracken waren 40,76 Meter lang und 9,56 m breit. Beidseits an den Enden große Eingangstüren, beiderseits des gebrochenen Daches in der gesamten Länge ca. 40 cm hohe Fenster.  In den einzelnen Baracken waren weder Fließwasser noch WC-Anlagen installiert. Die Lüftung erfolgte im Sommer und Winter durch Öffnung beider Türen. Zwischen den beiden Reihen der Krankenbaracken stand ein enges, langezogenes Steingebäude mit „Waschraum“, Toilettenanlagen, Leichenkammer. (Hans Marsalek, Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 2.1980, S. 176)

Die durch Erkrankung oder Unterernährung „arbeitsunfähig“ gewordenen Häftlinge, die im „Krankenlager“ untergebracht werden sollten, mussten jeweils zu Fuß und nur spärlich bekleidet den Weg aus dem Stammlager gehen. Bei dem „Krankenkager“ handelte es sich um kaum mehr als eine Einrichtung zur Auslagerung ihres Sterbens. Es gab weder nennenswerte medizinische Versorgung noch ein Mindestmaß an hygienischem Standard (in den Wochen vor der Befreiung waren in einem Krankenbett bis zu sechs Häftlinge untergebracht), was zu einer immens hohen Sterblichkeit führte. Neben der kaum vorhandenen Versorgung wurden die Häftlinge des Sanitätslagers auch immer wieder Opfer von "Selektionen": Die Schwächsten wurden zu Beginn etwa durch Herzinjektionen, später durch Vergasung entweder in der Gaskammer oder in der "Euthanasieanstalt" Schloss Hartheim ermordet oder wurden Opfer von durch SS-Ärzte durchgeführten medizinischen Experimenten.“ (a.a.O.)

*** Am 6.3.45 wurde der neue Block 9 des „Sanitätslagers“ bezogen. (vgl. Marsalek: Geschichte des KL Mauthausen, 2. 1980, S. 176).

 
Zdeněk Dvořáček gehörte in den letzten zwei Monaten vor Befreiung des KLM am 5. Mai 1945 zum Sanitäts-„Personal“ des Häftlingslagers in Block 9, d.h. zu jenen Häftlingen, die dort unter unmenschlichen Verhältnissen und unter ständigem Einsatz ihres Lebens als Häftlingspfleger arbeiteten. (vgl. Marsalek, a.a.O., S. 177).  Wo er zwischen Einlieferung 1944 und Anfang März 1945 eingesetzt wurde, ob im Steinbruch oder ob er überhaupt „arbeitsfähig“ war, ist nicht bekannt. Sein zensierter Brief vom Juni 1944 enthält offene Hinweise auf seinen schlechten Gesundheitszustand durch Unterernährung.

Zdeněk Dvořáček lernte während seiner Haft im KZ Mauthausen 1944 den Maler und Zeichner Bohumil Lonek kennen, von dem zwei Zeichnungen (Einband und Frontispiz) den Gedichtzyklus illustrieren und dem er das große Gedicht Letztes Abendmahl widmet. Bohumil Lonek (3. Juni 1903 in Chrudim - 5. Juni 1998 in Prag) studierte 1922-29 an der Akademie der Bildenden Künste in Prag. Als Illustrator, Karikaturist und Landschaftsmaler war er Mitglied des Vereins der ostböhmischen Künstler. Lonek wurde 1944, im selben Jahr wie Dvořáček, als politischer Schutzhäftling nach Mauthausen deportiert, wo er die Befreiung im Mai 1945 erlebte. "In Mauthausen schuf er mit Hilfe bescheidenster Mittel mehr als 100 Zeichnungen und kleine Aquarelle, die in der Tschechischen Kunst zu den künstlerisch wertvollsten Dokumenten gehören, welche sich mit dem Leben im Konzentrationslager auseinandersetzen."  Die Gedenkstätte Theresienstadt besitzt die umfangreichste Sammlung von Loneks Arbeiten aus dieser Zeit." (Zu Text und Abbildungen vgl.: Gedenkstätte Theresienstadt / KZ-Gedenkstätte Mauthausen (Hg.): Menschliche Schatten. Lidský stín. Helga Weissova-Hoskova, Bohumil Lonek, Leo Haas. 60 Bilder aus dem Konzentrationslager Mauthausen. Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Baracke 1. 4. Mai 2001-31. Juli 2001. Katalogheft, Wien 2001, S. 6 ff.   

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Hungerfrühling in Mauthausen - Die Mauthausen-Gedichte von Zdeněk Dvořáček

 
I


JARO 1945 V MAUTHAUSENU

 

Každá myšlenka se chví
Co zítřek tají?
Největší tajemství
jak v dobách bájí


rozpřádá lidské sny
Zas roste sláva
a doba má své hrdiny
a víra neustává


Zítřek se blíží
a již je nadosah
Tu jeden den svou tíží
zasáhne jako vrah


Tak zemřel kamarád
a umírá jich víc
Nechce se umírat
takové době vstříc


A je to tak lehké dnes
Lidé se hubí
Lidé ta podivná směs
štvou se do záhuby


Napětí hry stoupá
V sázce je celý svět
Ručička valí se houpá
Vydržet! Vydržet!




II


POSLEDNÍ VEČEŘE
B. Lonkovi 


Prázdná miska
v propadlém klínu
Prázdná dlaň kostlivců
Záchrana v drobečku chleba
Ještě jedna naděje nevyžebraná


Kdo to tu chodí?
Je v každém z nás
Jde neslyšně
Každou hodinu někoho vyprovodí


Vrávovrá kolem sloupů 
hlava mdlá závratí                                                                                                                                        Pramínek života dosud nevyschl
pod okoralou kůží rozpiatou po kostech


Miska pod hlavou
bubínek tanečnic
Kostnatými prsty vyklepává
vrávoravý rytmus srdce                                                                                                                                 Bojácná píseň žežulčina
Na moje břicho bubnujte                                                                                                                                k pochodu bubnujte
Na poplach
dokud nezmizí pramének světla v mých očích

Nebyl to buben jenom pavučina

Kdo to tu s námi dlí
Neviditelný bůžek
Je to náš druh
ve tváři trochu povadlý
jako my nazí
na smetišti vlhkých lůžek
Tiskne se k nám
Nezahříva Chládne Mrazí

Ještě pohybuje rty hlava opilá
a ruka v rozmáchnutí
Tmí se tmí vzpomínka návratu
a v dřevácích tak vratce skáče
Blíží se lehkost ticho

Koho to tu potkáváme
mezi námi
Komu to hledím do očí
To není člověk To nejsou lidé

To nejsou oči spáče

S kým bojovals tak zoufale
Která slova zadusila tvůj hlas
Hledám je troufalé
hledám je v nás

Umiráš člověče
věčnýutrpením                                                                                                                                                       Rozdej své tělo
Spas nás před hladověním

Yyprav nám poslední večeři
kalich krve a chléb těla
ať srdce novým tepem udeří
ať ožije mysl zmalátnělá


Po trpkém životě
chutnáš tak sladce mdle
Chtuná tak život                                                                                                                                                                    v jehož jsi zrcadle?

Chutná tak tělo
jako list uvadlé?

Je to přichut’ snů
které máš?
Nám je třeba
něčeho silného
něčeho hutného jako kus chleba
pro náš boj v budoucnu


Jedno sousto nenasytí
Náš hlad roste
a nitro napíná                                                                                                                                                    Snad je to po požití
záhrobní pravdy – pravdy prosté
vyrvané smrti ze klína


Žízeň bratří
žízeň po krvi a vínu!


Lákáš mě k sobě
Jak chutná pokoj, klid?
Me nohy obě
mé ruce obě
utéci chtějí
chtějí se bít


Vrátit se, rozumíš? Návrat
a pomstít ta léta proklatá                                                                                                                                                       Jak se to řekne polsky, rusky
nebo jsi Francouz?
Revanche, víš … Odplata


Klid Klid Konec utrpení
Proč mě tak láká
Bít se bít
Bodlo a pušku pro vojáka
a slabost rozdrtit!
Raději ještě sousto Ještě jeden den
Nezlob se kamaráde
Daruj mi ještě z tvého těla
to nejlepší
aby mi dodalo síly
aby mě přeneslo přes tento čas
abych nezaspal


Dej něco, co hlavu vyjasní
a vzpruží nohy
a napne každý sval
Dej mi, co život před smrtí zachrání
vždyť tuším již blízký mír
Víš, chci se vrátit
vrátit se, víš...revenir!


Je to ono
neklidné
Je to ono
jez než vystydne
Slyším je bít
Slyším bít nitro země
Už slyším jít
svobodu ke mně


Chutnám, soudruhu, hořké je
Vybilo všechnu bídu
rány, hlad, zatrpklé naděje
to zaklinadlo lidu

Co jsem tvé srdce sněd
Jsem závratí zpit
Divný příboj se ve mně zved
Dvojnásob chce se mi bít

 
Má pěst’
teď zemí otřese
a do všech měst
hlas bouři donese                                                                                                                                                   jako zvon kovový zvon


 

III


SETKÁNÍ NA DVOŘE 

Dvě bílé nohy sněhobílé
a černý dvůr
že slušely by dívce nebo víle
na haldě kreatur


Oč krásnější je ráz kmenů
v lese skácených
Zabořit ruce v trsy rmenu
poležet na mezích


kde z celého světa sotva bzukot
ještě uslyšíš
Zde nezní ani srdcí tlukot
tu nejtišší je skrýš

V tvé tváři klid a co číst z očí?
Snad výčitky i obavy
Čekám že něco poví. Ani se neotočí
zbaven hladu a únavy


Tam ten je tak cizí chladný
a přec je z nás
I my můžeme počítati na dny
svůj čas

Ulehnem na jeho místo v prachu
Snad já snad i ty
Vidíš sebe a jsi beze strachu
vidíš se ležet zabitý

Jiný straší fialovou tváří
plísni pokryvá se břich
Kravavou lebkou hnusem stáří
ztrnulí v páteřích

chtějí ti zhnusit lidské tělo
život a celý svět
To vše co v extasi nás uvádělo
krásu a lásku chtí ti zprotivět

A živý okouší moc a sílu
v utrpení těch jež ponížil
Zpíjí se bolestí a smrtí bez rozdílu
Zabíjí aby žil


Kam sis to vyšel na procházku?
Slunce tě zlákalo?

Snění ti vtisklo bílou masku
vím tobě se stýskalo

 
ty rozběhl ses pro jednu šťastnou chvíli
domů než květy rozpučí
a sen tě položil když došly síly
osudu v náručí


Mrtvý můj bílý


                                                               Psáno v Mauthausenu 1945.
 


Zdeněk Dvořáček: Hladové jaro v Mauthausenu. Frontispic Bohumila Lonka. Pardubice, Vlastimil Vokolek 1946.   




SETKÁNÍ S JAREM V MAUTHAUSENU 1965 


V lomu se břízy kadeří
a na štěrku tábora
se měkce rozprostřely luka
Vzpomínky se hrnou do dveří
a v řadách pochodují z vrat


Nad russenlágrem kukačka kuká
Kolik životů
Kolik let
kolikrát...


Za každé přátelské slovo tu rozkvétá pampeliška
Za každý přátelský pohled sedmikráska
To jsou poklady dětí
Kladou je na hroby těch které nepoznaly
a teď si s nimi vyprávějí...
Čím více člověk ztratí
tím je bohatší všechno je mu drahé
Čím více slábly paže v kamenolomu válečných let
tím silnější splétaly řetěz odporu
Čím vzdálenější je ta doba
tím jsme si blíž


Nad táborem zakukala kukačka
Kolik ještě let
Umlkla brzy chytračka
abychom mohli říci na shledanou
Těm kteří tu spí
Kteří jsou na dohled
 

                                                    

Dieses Gedicht von 1965 blieb bislang ungedruckt. ______________________________________________________________________________________________

Hladové jaro v Mauthausenu- Hungerfrühling in Mauthausen 

Übersetzung: 


I

Jaro 1945 v Mauthausenu

Frühling 1945 in Mauthausen


Was verbirgt das Morgen?
Jeder Gedanke zittert davor
Das größte Geheimnis
Wie in Zeiten der Sagen

Menschenträume steigen auf
Wieder wächst das Gras
Und die Zeit hat ihre Helden
Und das Glauben hört nicht auf

Der morgige Tag naht
Ist schon zum Greifen nah
Hier trifft mit seiner Mühsal und Last
ein Tag wie ein Mörder

So starb ein Freund
Und es sterben ihrer mehr
Der Mensch will nicht sterben
Und so einer Zeit entgegengehen

Und so leicht ist es heute
Die Menschen vernichten sich
Die Menschen, sonderbares Gemisch,
stürzen ins Verderben 
Die Spannung des Spiels steigt
Im Einsatz ist die ganze Welt
Der Zeiger dreht sich, schwankt
Durchhalten! Durchhalten!


  
II
 
Poslední večeře - B. Lonkovi

Das letzte Abendmahl -
für Bohumil Lonek

 
Leerer Napf
Im durchbohrten Schoß
Leere Handflächen der Gerippe
Rettung in der Brotkrume
Eine noch nicht erbettelte Hoffnung
 
Wer geht hier umher?
Er ist in jedem von uns
Sein Schritt ist lautlos
Von Stunde zu Stunde begleitet er jemanden
 
Er taumelt um die Pfeiler herum
Schwindel, Leere
Die Quelle des Lebens versiegte bisher nicht
Unter der straff über die Knochen gespannten,                                                                                        aufgesprungenen Haut

Der Kopf auf dem Napf
Die Trommel der Tänzerinnen
Mit den knochigen Fingern klopft er
den stockenden Rhythmus des Herzens
Angstvoller Kuckucksruf                                                                                                                                Trommelt auf meinem Bauch
Trommelt zum Marsch
Trommelt Alarm
Solange dieser Lichtstrahl in meinen Augen nicht erlischt
 
Es war keine Trommel, nur Spinnweben

Wer verweilt hier bei uns
Der unsichtbare Götze
Er ist unser Gefährte
Im Gesicht ein wenig welk
Nackt wie wir
Auf diesem Kehrichthaufen feuchter Lagerstätten

Presst er sich an uns
Er wärmt nicht, er kühlt, er lässt uns frösteln
 
Alles dreht sich im Kopf, noch bewegen sich die Lippen
Die Hand hebt sich
Immer tiefer verschwindet der Gedanke an die Rückkehr im Dunkeln
So unsicher hüpft er in den Holzpantinen
Die Leichtigkeit, Stille naht

Wem begegnen wir hier mitten unter uns
Wem schaue ich in die Augen
Es ist kein Mensch. Es sind keine Menschen
Es sind nicht die Augen eines Schlafenden
 
Mit wem kämpftest du so verzweifelt
Welche Worte erstickten deine Stimme
Ich suche sie, die Dreisten
Ich suche sie in uns
 
Menschensohn, du stirbst
durch ewiges Leiden                                                                                                                                  Verschenke deinen Körper
Erlöse uns von dem Hungerleiden

Bereite uns das letzte Abendmahl
Den Blutkelch und das Brot des Leibes
Möge das Herz neu anfangen zu schlagen
Möge die Mutlosigkeit weichen, wir wieder Mut fassen 

 
Nach dem bitteren Leben
schmeckst du so fad süßlich
Schmeckt das Leben so,
in dem du dich widerspiegelst?
 
Schmeckt der Körper so
wie ein Blatt, das verwelkt?
 
Ist das der Beigeschmack der Träume,
die du hast?
Wir brauchen
etwas Starkes,
etwas so Nahrhaftes wie ein Stück Brot
Für unseren Kampf in der Zukunft
 
Ein Bissen sättigt nicht
Unser Hunger wächst
und unsere Spannung tief im Innern
Vielleicht ist das so, nachdem wir die Wahrheit
über das Jenseits aufgenommen haben – die simple Wahrheit,
die dem Schoß des Todes entrissen wurde

Durst der Brüder
Durst auf Blut und Wein!
 
Du lockst mich zu dir
Wie schmeckt der Frieden, die Stille?                                                                                                                    Meine beiden Beine
Meine beiden Arme
wollen wegrennen                                                                                                                                            wollen sich schlagen
Zurückkehren, verstehst du? Rückkehr
und die verfluchten Jahre rächen
Wie sagt man es auf Polnisch, Russisch
Oder bist du Franzose?
Revanche, weißt du … Vergeltung

Stille, Stille, Ende des Leidens
Wieso verlockt es mich dazu
mich zu schlagen und zu schlagen
Das Bajonett und das Gewehr dem Soldaten
Und die Schwäche zerstoßen!
 
Lieber noch einen Bissen                                                                                                                                     Noch einen Tag
Sei nicht böse Freund
Schenke mir noch von deinem Körper
das Beste
Um mir die Kraft zu geben
Um mich über diese Zeit zu tragen
Um den richtigen Augenblick nicht zu verschlafen
 
Gib mir etwas, was den Kopf frei macht
und die Beine frisch
und jeden Muskel anspannt
Gib mir das, was das Leben vor dem Tod rettet
Ich ahne doch schon den nahen Frieden
Weißt du, ich will zurückkehren
Zurückkehren, weißt du…revenir!
 
Das ist es                                                                                                                                                           Das Unruhige
Das ist es
Iss, bevor es kalt wird                                                                                                                                          Ich höre es schlagen

Ich höre das Erdinnere dröhnen
Ich höre schon
die Freiheit mir entgegenkommen

Was ich koste, Genosse, ist bitter
Es machte frei von aller Not
Wunden, Hunger, von Hoffnung, die verbittert
Der Zauberspruch des Volkes
 
Als ich dein Herz verzehrte
Wurde ich taumelnd trunken
Da brandete etwas Sonderbares in mir auf
Mit doppelter Willenskraft will ich kämpfen.
 
Meine Faust erbebt jetzt mit der Erde
Und in alle Städte dringt
Die Stimme des Aufruhrs                                                                                                                                       wie eine Glocke, eine metallene Glocke


III

Setkání na dvoře

Zusammentreffen auf dem Hof

 
Zwei schneeweiße Füße
und der tiefschwarze Hof
zu einem Mädchen oder einer Fee würden sie passen
auf dieser Halde geschundener Kreatur
 
Viel schöner ist das Bild
umgefallener Stämme im Wald
Das Einsinken der Hände im Moos                                                                                                                           das Ruhen auf der Lichtung

 
Hier, wo du das ganze Weltengetriebe
kaum noch hörst
Hier, wo nicht einmal das Herz laut klopft
hier ist das ruhigste Versteck
 
Diese Stille auf deinem Gesicht und was ist in deinen Augen zu lesen?
Vielleicht Vorwürfe und Ängste
Ich warte darauf, dass du etwas sagst. Du
drehst dich nicht einmal um,
befreit von Hunger und Müdigkeit
 
Der dort ist so fremd, so kühl
und doch einer von uns
Ach, wir können unsere Zeit                                                                                                                                    auf den Tag genau berechnen
 
Wir legen uns an seiner Statt im Staube nieder
Vielleicht ich, vielleicht auch du
Du siehst dich selbst und hast keine Angst
Du siehst dich selbst tot daliegen
 
Der andere flößt Furcht ein mit seinem violetten Antlitz,
seinem mit Schimmel bedeckten Bauch
Mit blutigem Schädel, mit Ekel vor dem Alter
mit starrem  Rückgrat
 
Sie wollen dir den menschlichen Körper verekeln,
das Leben und die ganze Welt
Das alles, was uns in Ekstase geraten ließ,
Schönheit und Liebe wollen sie dir verleiden

Und jener, der lebt, kostet Macht und Stärke
aus im Leiden derer, die er erniedrigt hat
Er berauscht sich an Schmerz und Tod, unterschiedslos
tötet er, um zu leben
 
Wohin  führte dich dein Spaziergang?
Verlockte dich dazu die Sonne? 
Das Träumen drückte dir eine weiße Maske auf
Ich weiß, dich erfüllte ein Sehnen
 
Du stürmtest los um einen Augenblick des Glücks zu haben
nach Hause  bevor die Blumen erblühen
und der Traum legte dich dem Schicksal in die Arme                                                                                                   als deine Kräfte dich verließen
 

Mein weißer Toter
                                                                          

                                                                                  Geschrieben in Mauthausen 1945 

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Setkání s jarem v Mauthausenu 1965

Das Treffen mit dem Frühling in Mauthausen 1965
 

Im Steinbruch wiegen sich die Birken
und auf dem Lagerschotter
erstrecken sich weiche Wiesen

Die Erinnerungen strömen durch die Tür
Und in Reih und Glied wird aus dem Tor marschiert 
Über dem Russenlager erklingt ein Kuckucksruf

Wie viele Leben
Wie viele Jahre
wievielmal…
 
Für jedes freundliche Wort blüht da ein Löwenzahn
Für jeden freundlichen Blick ein Gänseblümchen
Es sind die Schätze der Kinder
Sie legen sie auf die Gräber derer, die sie nicht kannten
und jetzt unterhalten sie sich mit ihnen…
Je mehr ein Mensch verliert
Umso reicher ist er, alles ist für ihn kostbar
Je schwächer die Arme im Steinbruch der Kriegsjahre wurden
Desto stärker verflochten war der Widerstand
Je ferner die Zeit zurückliegt
Desto näher sind wir einander

Über dem Lager erklang ein Kuckucksruf
Wie viele Jahre noch
Der schlaue Vogel verstummte schnell
Damit wir denen, die hier schlafen
so nah,
auf Wiedersehen sagen können


Übersetzung:  Andrea Marková-Schacher, Brücke/Most-Stiftung zur Förderung der deutsch-tschechischen Verständigung und Zusammenarbeit, Außenstelle Freiburg,  Kartäuserstr. 49a, 79102 Freiburg, überarbeitet von Markus Wolter.  

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Copyright ©2011 by Antiquariat Markus Wolter, Freiburg


Sämtliche hier wiedergegebenen Texte und Fotografien sind urheberrechtlich geschützt und dürfen ohne ausdrückliche Erlaubnis des Urhebers in keiner Form wiedergegeben oder zitiert werden.
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MEDIAEVISTIK

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Artikel für die deutschsprachige Wikipedia:




http://de.wikipedia.org/wiki/Walther_von_Breisach



Das „Walther von Prisach“ zugeschriebene Textkorpus des Codex Manesse, fol. 295r, um 1300.

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Werk und Überlieferung  

In der „Großen Heidelberger Liederhandschrift“(Codex Manesse), fol. 295r-296v, finden sich als eines der nachgetragenen Textkorpora -ohne Miniatur, Wappen, ausgeführte Initialen und Rubrizierungen 22 Strophen in drei sogenannten Tönen: ein Gotteslob, ein Tagelied und ein fragmentarischer Marienpreis. Eine Vorschrift von alter Hand am Rand von Bl. 295v, Strophe 7, weist sie einem Meister walther von prisach als Autor zu;  ebenso der von späterer Hand, wahrscheinlich von Melchior Goldast vorgenommene Kopfzeileneintrag Meister Walther von Prisach zu Beginn des Korpus (fol. 295r). Außerhalb des Codex Manesse sind weder weitere Texte noch weitere Überlieferungsträger des Waltherschen Korpus bekannt. Die Lieder Walthers werden stilgeschichtlich mit dem urkundlich nicht bezeugten, vermutlich schwäbischen Sangspruchdichter Der Marner in Zusammenhang gebracht, dessen Lieder und Sangsprüche zwischen 1220 und 1270 entstanden sind.

Walthers erstes, siebenstrophiges Lied beginn mit einem Lobpreis auf den dreifaltigen Schöpfergott – du vater sun und ouch der geist / mit drin persônen got ân underscheide - und seine wohlgeordnete, im Großen kleine, im Kleinen große, immer aber ehrfurchtgebietende Schöpfung:  dem böuc dîn bein, er treit dîn leben in sîner hant, er durch dich arm, du mit im iemer rîche. Sie bilden gleichsam die schöpfungstheologische Voraussetzung für den folgenden moralisch-didaktischen Umriss einer sozialen, personalen Ordnung der Liebe und Freundschaft, welche die Liebenden, Mann  und Frau, aber auch den Freund zum Freund auf triuwe (der tugende muoter), mâze, rat und Wahrheit in der Entschiedenheit (nein unde jâ) verpflichtet. Wer dagegen solche moralische Ordnung missachte, laufe Gefahr, als fremder, dunkler Gast aus dem Bezirk des Menschlichen verjagt zu werden und im hellefiur, dem Höllenfeuer, zu enden.

Die folgenden 5 Strophen des Tageliedes (Initium: Ich singe und solte weinen) skizzieren den für diese Liedgattung typischen Verlauf: der Weckruf des Wächterfreundes veranlasst die letzte Umarmung und den Herzenstausch der Liebenden am „Morgen danach“; wahre Liebe ist einmal mehr ein Geschenk der Zeit und also gestundet; sie findet in der Klage über den notwendigen Abschied ihre schmerzliche Erfüllung:

Sîns lebens küneginne

der ritter an sich nâher twanc.

Dâ schuof diu werde minne

von beiden süezen umbevanc.

ein lieber nâher smuc,

ir mündel druc,

ein fluc ir herzen an ein ander dâ

tet kunt ir minne gir,

sî im, er ir:

an dir mîn leben lît, niht anderswâ.

Von den gelieben beiden

wart dâ mit willen unbegert

ein jâmerliches scheiden.

dem riter und der frouwen wert

ir wunneclich gemach

daz scheiden brach

und jach in wandelunge: liebe in leit.

ir herzen wehsel wart

dâ niht gespart.

Diu vart alsô geschach. der tac zu schreit.
  (fol. 295 v)

 

Auch die das Korpus beschließenden 10 Strophen des dritten, in Form, Reim und Stilfiguren besonders kunstvollen Tons variieren das Thema des rechten Zusammenlebens; hier in der Betonung und vor dem Hintergrund menschlicher Erlösungsbedürftigkeit: Ich sich und nime war / daz ich sô var / daz gar mir leben unde sin verwirret / unstaete gumpelspil. (fol. 295v) Am Vor-Bild der gottgefälligen Maria müsse sich der in in seinen Begierden, Wirrnissen und in moralischer Unstetigkeit verstrickte Mensch befreien und neu ausrichten. 

Autor

Ältere Untersuchungen gingen bislang wie selbstverständlich davon aus, dass es sich bei Walther von Prisach um einen zwischen 1256 und 1300 als Zeuge bzw. Aussteller von insgesam 14 überlieferten Urkunden (Meves 2005, S. 842-849) nachweisbaren Meister (magister) Walther (Waltherus), Schulmeister (scholasticus) von Freiburg handele, dessen Namen zwischen 1256 und bis 1269 noch überwiegend mit dem Zusatz „in (de) Brisaco (Brisacho)“  versehen ist. Er wird 1264  erstmals und ab 1271 durchgängig in den Urkunden mit dem Zusatz meister Walther, der schuolmeister  z e V r i b u r g  bzw.  i n  F r i b u r g namhaft, was einen Ortswechsel Walthers ins nahegelegene Freiburg ab 1271 wahrscheinlich macht. Den neuen Forschungsstand fasst Eckart Conrad Lutz vorsichtig zusammen: Auch wenn weder „die Einheit der Person noch die Identität mit dem Dichter [...] nachweisbar“ sind, so sprechen für sie doch „die Geschlossenheit der in den Urkunden greifbaren Führungsgruppen, die Äbte und Grafen, regionalen Adel, Klerus und Patriziat aus beiden Städten, Breisach und Freiburg, einschließen. (Lutz 1999, Sp. 639). Walther erscheint in den überlieferten Urkunden nach den Klerikern, aber vor den Bürgern in den Zeugenlisten. Als gelehrter Leiter (rector puerorum) stand er der erstmals 1250 erwähnten ältesten Lateinschule Freiburgs vor, dem späteren Berthold-Gymnasium (Urkundenregesten siehe: Meves 2005, Nrn. 12, 14); zwischen dem Grafen von Freiburg als Stadt- und Kirchenherrn und der Bürgerschaft. Die Lokalisierbarkeit der Schule verdankt sich im übrigen den Angaben in den erwähnten Urkunden: der Ausstellungsort der Urkunde vom 13. August 1291 – Diz geschach in meister Walthers des schuolmeisters hûs (Meves, Regest Nr. 8)- ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Lateinschule: Sie stand um 1300 in der vorderen „wolfhiuwelin“, der heutigen Herrenstraße: Als nämlich die Äbtissin und der Konvent des Freiburger Klosters  St. Clara Walthers Haus in der „Wolfs(h)eule“ posthum an das Zisterzienserinnenkloster [[Güntherstal]] verkauen, heisst es in der Verkaufsurkunde vom 30. Mai 1327, dort „var meister walthers seligen schuole úber“ (vgl. Meves 2005, Regest Nr. 15). 

Literatur
 
Freiburger Urkundenbuch, bearbeitet v. Friedrich Hefele. Bde. 1-3. Freiburg, Kommissionsverlag der Fr. Wagnerschen Universitätsbuchhandlung, 1938-1958.

Kraus, Carl von (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Band I Text. Zweite Auflage. Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1978, S. 575-581; Band II Kommentar. Besorgt von Hugo Kuhn. Zweite Auflage. Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1978, S. 624-626.

Pfaff, Friedrich (Hg.): Die große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) In getreuem Textabdruck hrsg. v. F. Pfaff. Titelausgabe der zweiten, verbesserten und ergänzten Auflage bearbeitet v. Hellmut Salowsky mit einem Verzeichnis der Strophenanfänge und 7 Schrifttafeln. Heidelberg 1995, Sp. 966-972.

Lutz, Eckart Conrad: ‚Walther von Breisach’, mit Bibliographie, in: Stammler, Wolfgang /Langosch, Karl (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 10. Walter de Gruyter 1999, Sp. 639-641.

Meves, Uwe (Hg.): Regesten deutscher Minnesänger des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin, New York, Walter de Gruyter 2005.; hier: ‘Walther von Breisach’,  S. 837-849.


Weblink

http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0585

Digitalisat des Codex Manesse bei der UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, Blatt 295r: Meister Walther von Prisach 

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Beitrag für Wikipedia 2008:

http://de.wikipedia.org/wiki/Colmarer_Dominikanerchronist

Der Colmarer Dominikanerchronist (* 1221; † um 1305 in Colmar) war ein Dominikanermönch in den Ordenskonventen zu Basel und Colmar im 13. Jahrhundert und gilt als anonymer Autor eines bedeutenden historiographisch-chronistischen Werkes.

Leben

Die wenigen bekannten Lebensdaten des anonymen Annalisten sind ausnahmslos Selbstzeugnisse und nur dem chronistischen Werk selbst zu entnehmen: Geboren wurde er demnach im Jahr 1221, trat 1238 in den Dominikanerorden ein, gehörte ab 1260 zum Konvent des Basler Predigerklosters und ab 1278 zum Gründungskonvent des Dominikanerklosters in Colmar (heute 'Bibliothèque de la ville (municipale)'. Unabhängige Quellentexte, die dies bestätigen könnten, existieren nicht bzw. sind nicht überliefert. Das Todesjahr ist ebensowenig bekannt, doch lässt es sich aufgrund des chronlogischen Abbruchs sowohl der sogenannten 'Großen Colmarer Annalen' (Annales Colmarienses maiores) als auch der 'Colmarer Chronik' (Chronicon Colmariense) 1305 erschließen und auf dieses Jahr in etwa festlegen.


Blatt aus den ‚Annales Basileenses’; Fol. 16 der sog. ‚Stuttgarter Handschrift’ (um 1540)


Werküberlieferung

In der von einer insgesamt ungünstigen Überlieferungssituation geprägten Editionsgeschichte der Colmarer Dominikaner-Geschichtsschreibung des 13. Jahrhunderts ist als bedauerlicher Umstand zu verzeichnen, dass das umfangreiche, in mittellateinischer Sprache verfasste Korpus lediglich in Abschriften des 16. Jahrhunderts überliefert ist. Die originale(n) Handschrift(en) aus dem 13. Jahrhundert müssen seit dem 18. Jahrhundert als verloren gelten. Von einem klaren Werkbild kann aufgrund einer von wechselnden Editionsgrundsätzen geprägten Geschichte der Abschriften und Drucklegungen nicht gesprochen werden. So erschien zwar bereits 1585 eine erste Druckfassung durch den Basler Humanisten Christian Urstisius (= Wurstisen) (1544-1588), doch wurden darin ebenso sorglos wie willkürlich zahlreiche Veränderungen am Manuskripttext vorgenommen: Urstisius kürzte die ihm vorliegende Abschrift des ursprünglichen Handschriftentexts nicht nur um etwa ein Drittel, sondern nahm auch sonst eigenmächtige, stilistische wie strukturelle Veränderungen vor. Auch die heute immer noch maßgebliche Druckausgabe, die von Ph. Jaffé im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica, Script. Band XVII, 1861 erfolgte Edition des Colmarer Korpus weist strukturelle Veränderungen gegenüber der Vorlage auf. Wie bereits schon die Urstisius-Ausgabe stützt sie sich auf die um etwa 1540 entstandene, maßgeblich in der Hand des Basler Humanisten Nikolaus Briefer († 1548) überlieferte Abschrift, die nach ihrem späteren Aufbewahrungsort in der Württembergischen Landesbibliothek sogenannte 'Stuttgarter Handschrift' (Signatur: WLB Stuttgart, cod. Hist. 4°,145). Das Original des 13. Jahrhunderts aus der Klosterbibliothek in Colmar muss Briefer offensichtlich als Grundlage gedient haben. Jaffé gliederte das unübersichtliche Gesamtbild der Brieferschen Abschrift editorisch in folgende Werkteile, die er mit eigenen Titeln versah:

* Annales Colmarienses minores, die 'kleinen Kolmarer Annalen' 1211-1298 (Abfassungszeit des Originalmanuskripts vermutlich um 1298).

* Annales Basileenses und Annales Colmarienses maiores, die zwei großen Annalen über die Jahre 1266-1305, synchron zunächst in Basel und ab 1278 in Colmar geführt

* Nichtannalistische Texte um 1300, die Jaffé in einen Text über „Ellsässische Zustände Anfang des 13. Jahrhunderts“ und zwei topographische „Beschreibungen des Elsaß und Deutschlands“ aufteilt.

* Chronicon Colmariense, die 'Kolmarer Chronik' der Jahre 1242-1304, behandelt die Geschichte Rudolfs I: und Albrechts von Habsburg sowie Adolfs von Nassau bis 1304 (Abfassungsbeginn in den 90er Jahren des 13. Jahrhunderts) und gilt als das

Die bislang einzige vollständige Übersetzung des Stuttgarter cod. Hist. 4°,145 ins Deutsche wurde auf Grundlage der MGH-Edition von Hermann Pabst besorgt und erschien 1867 (Folgeauflagen 1897 und 1940).

*In jüngster Vergangenheit wird die Autorschaft des Colmarer Chronisten auch für die bislang dem Dominikaner-Abt Rudolf von Schlettstadt zugeschriebenen, insgesamt 56 (+ 54 weitere in einer Sigmaringer Handschrift, dem Codex 64 der Sigmaringer Hofbibliothek) Wunder-, Geister-, Teufels- und Prophetie-Geschichten diskutiert, deren Überlieferung ebenso nur in Abschriften aus dem 16. Jahrhundert besteht (vgl.: Kleinschmidt, Erich (Hg.): Rudolf von Schlettstadt, Historiae Memorabiles).

Werkbedeutung

Die Werke des Colmarer Chronisten gelten seit Beginn ihrer Editionsgeschichte als nicht nur lokalgeschichtlich bedeutsame Aufzeichnungen, sondern werden zu den wesentlichen geschichtlichen Quellentexte aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gezählt, besonders hinsichtlich ihrer Abschnitte zu Person und Regentschaft Rudolfs I. von Habsburg.

Sie repräsentieren beispielhaft die seit dem 12. Jahrhundert sich abzeichnende "andere" Geschichtsschreibung in der grundsätzlichen Abkehr von konventionell gebundener Historiographie der großen, reichsgeschichtlichen Zusammenhänge hin zu einer eher lokal begrenzten, episodischen, auf mittelbare Informationsquellen (Mönche, Kriegsmänner, fahrende Spielleute) sich stützende Ereignisgeschichte, die Aspekte des Epischen, Anekdotischen und Erbaulichen aufweist. Die chronistischen Schriften des Colmarers zeichnet eine lebendige Fülle von Vorkommnissen und Nachrichten aus, die im Sinne einer Alltagsgeschichte die unmittelbare Umwelt, Erlebniswelt und das Wirklichkeitsverständnis der Menschen jener Zeit und Region plastischer zu vermitteln vermag als die bis dato einzig als „literaturfähig“ geltenden Reichsgeschichten.

Insbesondere die annalistischen Werke des Colmarers, die Annales Colmarienses maiores und Annales Basileenses, bieten in dieser Hinsicht ein buntes, ja verwirrendes Neben- und Nacheinander von selbst Erlebtem oder gerüchteweise nur Gehörtem. Scheinbar wahllos und ohne Gewichtung sammelt der Chronist alle Nachrichten, deren er nur habhaft werden kann. Was ihm dabei irgendwie merk-würdig und interessant zu sein scheint, zeichnet er ohne offenkundigen Versuch sachlicher oder inhaltlicher Ordnung auf: Kaiserkrönungen, Konventsgründungen, Kriegsereignisse, Brandkatastrophen, Belagerungen, Todesfälle in den Reihen des Klerus, Tötungsdelikte in den Reihen der Ritter, Bürger und Bauern, Naturererscheinungen und –katastrophen, Verwüstungen, Beobachtungen aus der heimischen Tier- und Pflanzenwelt, Wetter und Klimaverhätnisse, warme Winter und kalte Sommer, Erntezeiten und Erntegüten, Wein- und Getreidepreise, Nachrichten über Monstra und Krankheiten, diabolische Geschichten und vielerlei Curiosa. Das additive Verfahren des Colmarers berichtet dabei in fast jedem neuen Satz auch ein neues Ereignis oder eine neue Beobachtung und liefert eine gegenseitig konterkarierende Abfolge von alltäglich „Belanglosem“ mit reichsgeschichtlich „Bedeutsamen“:

„1288. Der Abt von Murbach vertrieb aus dem Flecken Gebweiler sämmtliche Edle, weil sie sich gegenseitig auf hinterlistige Weise verwundet haben. Ein Sohn König Rudolfs, der Landgraf des Elsasses und Herzog von Baiern, rastete mit hundert Rossen im Hof der Schwestern unter der Linde zu Kolmar. Am 22. Januar stießen bei Mümpelgard große Schwärme von Vögeln auf einander und lieferten sich eine Schlacht, in welcher nach der Erzählung mehrerer Leute über dreihundert umkamen. In gleicher Weise kamen bei demselben Orte Scharen von zahmen Schweinen zusammen, und töteten sich durch gegenseitige Bisse. Am Tage vor Agathen leuchteten Blitze. Die Juden gaben dem König Rudolf zwanzigtausend Mark, damit er ihnen gegen die von Oberwesel und Boppard Recht verschaffte. In der Stadt Bern besiegte ein Weib einen Mann im Zweikampf. Um der Jungfrau Reinigung kam ein Sturm, der einen großen Wald bei Hohenack von Grund auf verwüstete. König Rudolf sammelte ein Heer, um eine vom Mainzer Erzbischof belagerte Burg zu entsetzen.“ (Annales Colmarienses maiores, zit. nach: Pabst, Hermann (Übers.): a.a.O, S. 59.)

Der dabei enstehende unruhige, ja sprunghafte Charakter der Aufzeichnungen scheint in der Natur dieses Werkes begründet und war mit einiger Sicherheit bereits der Urschrift eigen. Dass der Colmarer häufig zentrale und periphere Geschichtsereignisse des 13. Jahrhunderts gleichgewichtig aufeinander folgen lässt, das scheinbar Belanglose mitunter in epischer Breite behandelt, das überregional Bedeutsame aber nicht selten in lakonischer Knappheit nur eben erwähnt oder völlig übergeht, kann seiner Geschichtsschreibung nur auf den ersten Blick als mangelnde formale wie inhaltliche Stoffbewältigung vorgeworfen werden; bei genauer Hinsicht wird hier ein – wenn auch unbewusster – literarischer Stil prägend, dessen suggestive Kraft den damaligen wie heutigen Leser zu beeindrucken vermag. Die Unbefangenheit narrativen Sammelns machen die Aufzeichnungen des Colmarers wie kaum eine andere Historiographie ihres Jahrhunderts zu einem literarischen Dokument alltäglicher Geschichte: mittelalterliche Lebens- und Denkwirklichkeiten, Wahrnehmungsmuster, regionales wie allgemeines Geschichtsverständnis der Menschen um 1300 und in dieser Region kommen darin exemplarisch zur Sprache.

Archivalische Quellen

* 'Stuttgarter Handschrift' (= S): Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, cod. Hist. 4°. 145, um 1540.
* 'Colmarer Handschrift' (=C) (Auszug auf fol. 183v-fol. 188r): Stadtbibliothek Colmar, cod. 248, um 1462/63.
* 'Donaueschinger Handschrift', (olim) cod. 704 (=D) (=Auszug aus der redigierten 'Colmarer Chronik' auf fol. 174r – fol. 193v): Württembergische Landesbbibliothek Stuttgart, um 1545.

Gedruckte Quellen

* Kleinschmidt, Erich (Hg.): Rudolf von Schlettstadt. Historiae Memorabiles. Zur Dominikanerliteratur und Kulturgeschichte des 13. Jahrhunderts Köln, Wien, Böhlau Verlag 1974.
* Pabst, Hermann: Annalen und Chronik von Kolmar. Nach der Ausgabe der Mon. Germ. übersetzt, in: Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Bd. 75, Leipzig 1867.
* Pertz, Georg Heinrich (Hg.): Monumenta Germaniae Historica (=MGH), Scriptores, Tomus XVII, Hannover 1861; darin: Annales Colmarienses minores et maiores, Annales Basileenses, Chronicon Colmariense, ed. Philipp Jaffé, S. 183-270.

Literatur

* Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. v. Wolfgang Stammler, fortgeführt v. Karl Langosch. Hrsg. v. Kurt Ruh u.a. Bd. 1., 'Colmarer Dominikanerchronist', Berlin 1978, Sp. 1295 f.).
* Köster, K.: Die Geschichtsschreibung der Kolmarer Dominikaner des 13. Jahrhunderts, in : Schicksalswege am Oberrhein, hg. V. P. Wentzcke, 1952, S. 1-100.
* Kleinschmidt, E.: Die Colmarer Dominikaner-Geschichtsschreibung im 13. u. 14. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 28 (1972), S. 371-438.

Weblink

Monumenta germaniae historica digital (Volltextdigitalisat): Scriptores/Script. (in folio)(SS) / Vol. 17 [Annales aevi Suevici] / gehe zu S. 189-270  :

http://www.dmgh.de

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Johannes Brunwart von Ŏghein (Augheim, Auggen)  (Codex Manesse 258v)




Artikel für Wikipedia:

http://de.wikipedia.org/wiki/Brunwart_von_Augheim

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Der Minnedichter Walther von Klingen (Codex Manesse 52r)




Artikel für Wikipedia:

http://de.wikipedia.org/wiki/Walther_von_Klingen

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Der Minnedichter Steinmar (Codex Manesse 308v-310v)

Beitrag für Wikipedia (2007): http://de.wikipedia.org/wiki/Steinmar







Zu Identität und Werk

Der nur unter dem Namen [Herr] Steinmar, d. h. ohne Vor- oder Beiname überlieferte Minnesänger aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts gilt als Autor von 14 Liedern, die in die Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse, 308v-310v) Eingang fanden.

Zwar wurden schon früh Versuche unternommen, den Steinmar des Codex Manesse mit einem schwäbischen Ritter Steinmar von Sießen-Stralegg (urk. 1251-1294) gleichzusetzen (zuletzt: Krywalski 1966), doch erweist sich dies bei näherem Besehen als fraglich: Der Sießen-Stralegger Steinmar kann wohl allein schon deshalb nicht der Dichter sein,  weil Steinmar in den überlieferten schwäbischen Urkunden nachweislich der Vorname und nicht, wie im Codex Manesse und in den Klingnauer Urkunden, der Geschlechtername des Minnesängers ist (Württembergisches Urkundenbuch, Band IV, (1251), Nr. 1175; Band V, (1259), Nr. 1531) (vgl. www.wubonline.de)

Für eine begründete Favorisierung des Aargauer Ritters sind hingegen die für Berthold Steinmar von Klingnau belegbaren biographischen Bezüge zu Straßburg und das literarisch-personale Umfeld um Walther von Klingen (s.u.) signifikant:
So findet sich im Straßburger Münster in der Wandarkatur des nördlichen Seitenschiffes des bereits um 1275 entstandenen Langhauses eine mit Stei[n]mar signierte, 17 cm hohe Relieffigur, die ganz offensichtlich auf Steinmar als den Autor des sogenannten Herbstliedes anspielt, diesen womöglich sogar porträtieren möchte: ein sich dem Trinkgenuss hingebender Mann in kurzem Rock und mit Gürteltasche hält in der Linken eine Kanne und führt mit seiner Rechten einen riesigen, hölzernen Weinbecher zum Mund (vgl. Schultz 1922). Dem ausführenden Steinmetz muss dieses Herbstlied bereits bekannt gewesen sein. Sein Steinmar-Relief im Straßburger Münster ist kenntnisreiche Anspielung und Beleg dafür, dass der Minnedichter Steinmar rezeptionsgeschichtlich vor allem mit diesem "Schlemm- und Trinklied" in Verbindung gebracht und tradiert wurde.







Nun sind aber nur für den Aargauer Ritter Berthold Steinmar von Klingnau biographische Bezüge nachzuweisen, die einen oder mehrere Aufenthalte in Straßburg zwischen 1275 und 1278 wahrscheinlich machen, was die Schaffung der dortigen Reliefskulptur erklären könnte. Zusammen mit seinem Bruder Conrad findet sich Berthold Steinmar in zahlreichen Urkunden der Zeit aus Klingnau, Rheinfelden, Basel, Oetenbach, Beuggen und Säckingen bezeugt, wobei er als Ministeriale des Minnedichters und Edlen Walther von Klingen (urk. 1240 - 1286) in Erscheinung trat. Wie dieser, der in Straßburg begütert war und ein Haus am Münsterplatz besaß, stand Berthold Steinmar in enger Verbindung zu König Rudolf I. von Habsburg (1273-1291), mit dem zusammen er als urkundlicher Zeuge auftrat und in dessen Gefolgschaft er 1278 an der Schlacht auf dem Marchfeld bei Wien gegen Ottokar von Böhmen teilnahm. Dabei führte Steinmars mutmaßlicher Weg von seinem Wohnsitz Klingnau zunächst rheinabwärts über Straßburg nach Mainz, wo sich Rudolfs Truppen 1276 sammelten. Historische Anspielungen in Steinmars Liedern beziehen sich unter anderem auch auf diesen Feldzug.

Werk

Die Literaturgeschichte sieht, pars pro toto, in Steinmars Herbstlied geradezu die Erfindung einer "neuen Sinnlichkeit" der "niederen" Minnedichtung des 13. Jahrhunderts und diese als Gegenentwurf zur höfischen Liedkunst des Hochmittelalters: In der Abkehr vom Ideal der höfischen Minne-Konzeption, des Maßes und der ritterlichen Zucht in der notwendig unerfüllt bleibenden "hohen Liebe" zu einer standesgemäß verheirateten edlen frowe, findet das lyrische Ich Steinmars dabei leidlich und weinselig Trost in den sinnlichen wie irdischen Genüssen, herbstlichen Tafelfreuden und maßloser Völlerei:


Sit si mir niht lonen wil der ich han gesungen vil seht so wil ich prisen den der mir tuot sorgen rat. herbest der des meien wat. vellet von den risen. ich weis wol es ist ein altes mære. dc ein armes minnerlin ist reht ein martere. seht zuo den was ich geweten. wâffen die wil ich lan und wil ins luoder tretten. Herbest under wint dich min. wan ich wil din helfer sin. gegen den glanzen meien. durh dich mide ich sende not. sit dir gebewin ist tot. nim mich tumben leigen. vúr in zeime steten ingesinde. Steimar sich dc wil ich tuon swenne ich nu bas bevinde. ob du mich kanst gebrueven wol. wafen ich singe das wir alle werden vol. Herbest nu hoere an min leben. wirt du solt uns vische geben. me danne zehen hande. gense huenr vogel swin. dermel pfawen sunt da sin. win von welschem lande. des gib uns vil und heisse uns schússel schochen. koepfe und schússel wirt von mir untz an den grunt erlochen. wirt du la din sorgen sin. wafen ioch muos ein rúwig herze troesten win. Swc du uns gist dc wurze uns wol bc dan man zemase sol. dc in uns werde ein hitze. dc gegen den trunke gange ein dunst. als ein rouch von einer brunst. und dc der man er switze. dc er wêne dc er vaste leke. schaffe dc der munt uns als ein apoteke smeke. er stumme ich von des wines kraft wafen so gúz in mich, wirt durh geselleschaft. Wirt durh mich ein strâze gat. dar uf schaffe uns allen rat manger hande spise. wines der wol tribe ein rat. hoeret uf der strâze pfat. minen slunt ich prise. mich wúrget niht ein grôssú gans so ichs slinde. herbest trut geselle min noch nim mich zeingesinde. min sêle uf eime rippe stat. waffen dú von dem wîne dar uf gehúppet hat. 

„Weil sie mir’s nicht lohnen will, der ich viel gesungen habe, seht, so will ich den rühmen, der mir meine Sorgen nimmt: den Herbst, der das Maienkleid von den Zweigen fallen lässt. Ich weiß wohl, es ist eine alte Geschichte, dass ein armes Minnerlein wahrlich ein Gequälter ist. Seht, solchen wurde ich ähnlich. Oh weh! Die will ich hinter mir lassen und dem Schlemmerleben frönen. Herbst, nimm dich meiner an, denn ich will dein Helfer sein gegen den Maienglanz; durch dich vermeide ich die Liebesqual. Da dir Gebewin gestorben ist, nimm mich tumben Laien an seiner statt zu einem treuen Diener. – Steinmar, sieh, das will ich tun, wenn ich jetzt mehr erfahre, ob du mich wirklich würdigen kannst. - Oh weh! Ich singe, dass wir alle berauscht sein werden. Herbst! Nun höre an mein Leben! Wirt! Du sollst uns Fische geben, mehr als zehnerlei, Gänse, Hühner, Vögel, Schweine; Würste und Pfauen soll es geben, Wein aus welschem Lande. Davon gib uns viel und sag, man soll uns die Schüsseln füllen: Becher und Schüssel werden von mir bis auf den Grund geleert. Wirt! Lass deine Sorgen sein. Oh weh! Doch muss Wein ein betrübtes Herz trösten. Was du uns gibst, das würze uns gut, mehr als das Maß es will, dass uns heiß werde, dass es dem Trank entgegendampft wie Rauch von einem Brand und dass dem Mann der Schweiß in Strömen fließt als wäre er im Badhaus. Mach, dass der Mund uns wie Spezereien schmecke. Verstumme ich durch die Kraft des Weines, weh mir, so gieß mich voll, Wirt, und leiste mir Gesellschaft. Wirt! Durch mich führt eine Straße: darauf schaff uns alle Vorräte, vielerlei Speise, Wein, der ein Mühlrad wohl antreibt, gehört auf den Pfad der Straße. Meinen Hals preise ich! Mich würgt nicht eine große Gans, wenn ich sie verschlinge. Herbst! Mein lieber Freund, mach mich zu deinem Gefolgsmann. Auf einer Rippe steht meine Seele, oh weh, die durch den Wein da drauf gesprungen ist.“

Übersetzung: Markus Wolter

Als erstes Lied eröffnet es das Steinmarsche Corpus im Codex Manesse, dessen Niederschrift auf die Jahre um 1300 fällt; der Miniaturenmaler des Grundstocks greift, wie Jahrzehnte davor bereits der unbekannte Steinmetz zu Straßburg, in seinem Steinmar-"Porträt" auf das Motiv des Herbstliedes zurück (siehe Abbildung) und inszeniert den Dichter in charakteristischer Pose sowohl des sinnenfrohen Zechens als auch, in Personalunion, als Wirt in grün gegürtetem Gewand mit Goldbesatz an Ärmeln und am Hals.

Literatur


Primärliteratur

Pfaff, Friedrich (Hg.): Die große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) In getreuem Textabdruck hrsg. v. F. Pfaff. Titelausgabe der zweiten, verbesserten und ergänzten Auflage bearbeitet v. Hellmut Salowsky mit einem Verzeichnis der Strophenanfänge und 7 Schrifttafeln. Heidelberg 1995, Sp. 994-1005.

Sekundärliteratur

Richard M. Meyer: Steinmar v. Klingnau, Berthold. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Bd. 35, S. 746–748.

Bader, Josef: Das ehemalige sanktblasische Amt Klingenau. Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, ed. Mone. Erster Band. Karlsruhe 1850, S. 452 ff.

Bartsch, Karl (Hg.): Die Schweizer Minnesänger. Frauenfeld, Verlag Huber 1964, S. CVI ff.

Huber, Johann: Die Regesten der ehemaligen Sanktblasier Propsteien Klingnau und Wislikofen im Aargau. Ein Beitrag zur Kirchen- und Landesgeschichte der alten Grafschaft Baden. Luzern, Räber 1878.

Krywalski, D.: Untersuchungen zu Leben und literaturgeschichtlicher Stellung des Minnesängers Steinmar, München 1966.

Lübben, Gesine: "Ich singe daz wir alle werden vol". Das Steinmar-Oeuvre in der Manessischen Liederhandschrift. Stuttgart, Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1994.

Mittler, Elmar / Werner, Wilfried (Hg.): Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. Texte. Bilder. Sachen. Katalog zur Ausstellung 1988. Universitätsbibliothek Heidelberg. Heidelberg, Braus 1988.

Mittler, Otto: Geschichte der Stadt Klingnau 1239-1939, Aarau, Sauerländer 1947, S. 38-46.

Peters, Ursula: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, Tübingen, Max Niemeyer Verlag 1983; hier: Der Literaturkreis um Walther von Klingen, S. 105-114.

Schultz, Franz: Steinmar im Straßburger Münster. Ein Beitrag zur Geschichte des Naturalismus im 13. Jahrhundert. Mit einer Tafel im Lichtdruck. Berlin, Leipzig, Walter de Gruyter & Co 1922.

Wachinger, Burghart (Hg.): Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Frankfurt a. M., Deutscher Klassiker Verlag 2006, S. 322-41 (Liedtexte Steinmars); 797-806 (Stellenkommentar).

Wachinger, Burghart (Hg.): Die Deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 9, Berlin, New York 1995, [Steinmar]: Sp. 281-284.

Walther, Ingo F. (Hg.): Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hrsg. und erläutert v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit von Gisela Siebert. Frankfurt a. M., Insel 1988.

Copyright ©2011 by Antiquariat Markus Wolter, Freiburg

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"Alte Berain über (Stetten und) Schliengen" - Ein bislang unbekanntes Urbar des Klosters und Chorfrauenstiftes Sankt Fridolin in Säckingen, entstanden um 1300.



Du sint du gueter dù min vrowe von Sechingen selber bùwent und hoerent in den hof ze Sliengen. der namen hie nach geschriben stant.


Bandbeschreibung, Paläographie und Erhaltungszustand:

Codex in mittelhochdeutscher Sprache auf Pergament; beidseitig beschrieben. Einbanddecke recto mit späterer Titelaufschrift in schwarzer Tinte: Alte Berain [Rasur: über Stetten] und Schlieng[e]n.

Gebunden in einem mit Rollenstempeln blindgeprägten Schweinsledereinband des 16. Jahrhunderts über Holzdeckeln, mit 3 Doppelbünden und zwei intakten Schließen. 21,5 x 14,5 cm. Stücke: Kompilation von zwei Urbaren bzw. Teilurbaren: das erste fol. 1-17 (um 1300), das zweite fol. 18-34 (um 1320/30), davon 5 Seiten unausgeführt. Schriftspiegel: 16,5 /18,5 x 11,5 cm. Bei der späteren Bindung wurden Seiten verheftet: fol. 28-29 nach fol. 24v; fol. 27 nach fol. 29v; fol. 25 nach fol. 27. 

Handschrift in schwarzer bzw. brauner Tinte mit den üblichen Rubrizierungen zu Beginn eines Satzes, Abschnittes und zur Hervorhebung von Eigennamen und Begriffen. Teilweise am unteren Rand vom Schreiber paginiert. Gleichmäßige gotische Minuskel von zwei Hauptschreibern und, im ersten Hauptteil, drei weiteren Händen in teils kursivierten Einschüben; diese nicht rubriziert. Teils leicht schwankend in Größe, Dicke, Zügigkeit und Duktus. Zweite Haupthand von hohem kalligraphischem Niveau. Zumeist doppelte Brechungen der Schäfte, Zierstriche auf den r-Fahnen, Rundung und Brechung nebeneinander, Bogenverbindungen, diakritische Zeichen, st-Ligaturen, keine i-Punkte, sondern teils i-Striche, Kürzel für er-, -er, -en, -em. An den oberen Seitenrändern mitunter Vormerkungen des Schreibers, überdies wenig spätere Randeinträge bzw. Titulierungen zum besseren Auffinden der Liegenschaften im Text.  Ein leerer Papierbogen vor- und 1 leere Papierlage nachgebunden.













fol. 1r



Detailansicht fol. 5r



Detailansicht fol. 15v


Erhaltungszustand:

Sowohl hinsichtlich des Einbands als auch der Textblätter von guter bis sehr guter Erhaltung; ohne unleserliche Stellen oder Textverluste. Farbe des Pergaments: Weiß, bräunlich, verschiedene leichte Schattierungen, nur das Deckblatt stärker gebräunt, wohl aufgrund einer einbandlosen Interimszeit. Kräftig in Tintenstrich und Rubrizierung. Einige Schnitte, soweit im Schriftspiegel liegend, von alter Hand noch vor Beschriftung vernäht; um solche Nahtstellen ist herumgeschrieben. An einzelnen Seitenrändern erkennbar sind die nadelfeinen Einstichlöcher des Zirkels bei der Linierung. Anläßlich der Bindung wurden die Ränder beschnitten, teils unter Verlust der Randbemerkungen von späterer Hand.


I   Allgemeine Anmerkungen: ‚Urbar’  (‚Berain’)

Der Begriff ‚Urbar’ bzw. ‚Urbarium’ wird aus dem althochdeutschen "urberan" bzw. dem mittelhochdeutschen "erbern" für "hervor bringen" oder "einen Ertrag bringen" abgeleitet. In vielen Regionen sind für diese Verzeichnisse auch die Bezeichnungen Salbuch, Berain, Heberegister, Güterbuch und Zinsrodel geläufig.

Es handelt sich um zu ökonomischen, administrativen oder rechtlichen Zwecken angelegte Verzeichnisse von Liegenschaften, Abgaben und Diensten einer Grundherrschaft (z. B. eines Klosters) oder eine Villikation. 

Urbare sind in verschiedenen Formen überliefert: als meterlange Schriftrollen von aneinander genähten Pergamentblättern - Rodel (mittellat. rotulus) genannt -,  als Einzelblätter, Pergamenthefte oder -bücher, vom 15. Jh. an zunehmend auf Papier statt Pergament geschrieben.

Bedeutung:

Die frühen Urbare sind oft die einzigen Quellen zur mittelalterlichen Verfassungs-, Siedlungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte sowie zur mittelalterlichen Genealogie und Ortsnamenforschung. Auch sprachgeographisch sind sie bedeutende Belege für die volkssprachlichen Eigenheiten einzelner Regionen zu einer Zeit, als sich der Gebrauch des Deutschen als Schriftsprache gegenüber dem Lateinischen gerade erst zu emanzipieren beginnt:

„Sie werden vom Ende des 13. Jahrhunderts an auch in deutscher Sprache geführt. Als Instrumente der Verwaltung dienen sie auch verhältnismäßig kleinen Grundherrschaften. Deshalb ergeben sie als sprachgeographische Quellen ein ziemlich dichtes Ortsnetz. Ihr Sachbereich ist beschränkt, ihr Inhalt ist von „litaneihafter Monotonie“, was die Vergleichbarkeit in der Geographie erhöht. Sie sind meist leicht datierbar und durch ihren Inhalt ohne weiteres lokalisierbar. (...). Die ortsgebundene Bestimmung der Urbare lässt sie besonders nahe an der regionalen Volkssprache stehen. Sonderschreibungen sind häufiger als in anderen Quellen. (...). Daneben  verursacht der hohe Anteil von oft nicht mehr verstandenen Namen des öfteren Schreibversuche nach dem Ohr.“ (Werner König: dtv-Atlas zur deutschen Sprache, München 1978, S. 83)

Während sich im frühen und hohen Mittelalter die urbariellen Aufzeichnungen in reinen Besitzlisten und Abgabenverzeichnissen erschöpften, traten im späten Mittelalter an deren Stelle regelrechte Besitzbeschreibungen eines konkreten Wirtschaftssystems (Herrschaft, Amt, Gericht). 


 II  Besondere Anmerkungen

3.1. Das Kloster und Frauenstift Sankt Fridolin in Säckingen:



Das als ‚Seckinga’ gegründete Doppelkloster gilt als eines der ältesten und bedeutendsten Alemannenklöster. Geschichtlicher Abriß: 6./7. Jh. (?): Der irische (?) Missionar St. Fridolin gründet auf der Rheininsel Kirche und Doppelkloster im Auftrag (?) des fränkischen Königs Chlodwig (?). Auf Grund seiner Lage spielt das Kloster eine bedeutende Rolle in der fränkischen und danach der ottonischen Reichspolitik. Das Königskloster erhält umfangreichen Grundbesitz am Hochrhein, Zürichsee und im Lande Glarus. 878: Erste urkundliche Erwähnung, Kaiser Karl III. übereignet das Kloster seiner Gemahlin Richgard. 9./10. Jahrh.: Entstehung einer karolingischen Kirche. 11./12. Jahrh: Aus der Marktgründung des Klosters entwickelt sich die Stadt Säckingen. Das Nonnenkloster wandelt sich später unter der besonderen Gunst des Hauses Habsburg (1173 wird die Schirmvogtei der ganzen Grundherrschaft Säckingen von Kaiser Friedrich Barbarossa an den Grafen Rudolf von Habsburg übertragen) zu einem freiweltlichen Stift adliger Frauen. 1272: Eine Brandkatastrophe vernichtet Stift und Stadt. Das Klosterarchiv und sämtliche Urkunden gehen verloren. 1307: Elisabeth von Bussnang, Äbtissin des "gotzhuses ze Sekingen", wird in den Reichsfürstenstand erhoben. 1806: Aufhebung des Stiftes infolge der Säkularisationen nach dem Pressburger Frieden. Seinen Besitz übernimmt die Domäne des neuen badischen Staates. Das Stiftsarchiv befand sich bis 1806 in einem gewölbten Raum unmittelbar bei der dortigen Stiftskirche. Es wurde unter Zurücklassung für unwichtig gehaltener Teile 1823 nach Freiburg, 1840 nach Karlsruhe überführt, wo Franz Joseph Mone ab 1852 einzelne Urkunden publizierte.


2. Schliengen und Stetten als Dinghöfe des Klosters Säckingen

Die Mehrzahl der Besitzungen des Klosters Säckingen waren in  sogenannte Dinghof-Verbände eingegliedert: der Säckinger Berain von 1428 zum Beispiel  nennt 11 bzw. 12 Dinghöfe:

Im Argau: Hornussen, Kaisten, Zuzgen, Mettau, Mandach, Sulz, Steinen.

Im Hauensteinischen: Murg, Oberhof, Herrischried

Im Breisgau: Stetten und Schliengen.

Jeder dieser Dinghöfe, zu dem eine Anzahl abhängiger Güter (= Huben) gehörte, war der Mittelpunkt  eines größeren Güterkomplexes in rechtlicher und verwaltungstechnischer Hinsicht:  rechtlich war er die Stätte des Dinggerichts; verwaltungstechnisch war ein Dinghof die Einsammelstelle der Abgaben der Grundholden.

Einzugsbereich des Dinghofs in  Stetten:

Binzen, Brombach, Eimeldingen, Fischingen, Haltingen, Hiltlingen (abgegangen), Inzlingen, Kirchen, Lörrach, Maulburg, Oetlingen, Ottwangen, Rümmingen, Stetten, Tüllingen.

Einzugsbereich des Dinghofs in Schliengen: 

Altinger Mühle, Auggen, Bamlach, Bellingen (Bellinkon), Bollschweil, Buggingen,Ober- und Untereggenen, Feldberg, Gennenbach, Hach, Hertingen, Kutz, Liel, Mauchen, Rheinweiler,  Steinenstadt. 

III Gliederung und Inhalt des Textes

Nach Orten, zunächst die Besitztümer, die vom Kloster Säckingen im Dinghofverband Schliengen selbst bewirtschaftet wurden, dann jene Liegenschaften, die an Grundholden, Weinbauern, Dienstmänner, Bürger und Ritter, ("her", "eim riter") als Lehen vergeben waren. Innerhalb der Orte nach Namen der Grundholden und deren Anrainer, Lagen, Bebauung (Äcker, Wiesen, Reben, Wald), Größe und Einnahmeart bzw. Einnahmehöhe. Abgabegüter sind Rot- und (selten) Weisswein, Hühner, Gänse, Kapaune, Roggen, Hafer und/oder Geldabgaben:  sol.(idus) = Schilling, bzw. ð = Denar, d.i. 'phenning'. Das Urbar schreibt darüber hinaus grundsätzliche, das Lehensverhältnis zwischen Kloster und Grundholden  betreffende Vereinbarungen in Art eines 'Weistums' fest, so etwa die Verpflichtung zu Treue- und Wahrheitsschwur und nicht zuletzt zur Dinggerichtsbarkeit dreimal jährlich (siehe unter IV). 
Unter den vielen im Urbar Genannten - Menschen, die vor 700 Jahren in dieser Region lebten, arbeiteten und starben - befinden sich im übrigen "namenlose" wie "namhafte" : ein Cuenzi Rotfoegelli, eine Elli von Leidinkon, oder ein Bertschi Zunderli werden darin ebenso erwähnt und dokumentiert wie etwa der Minnedichter Johannes Brunwart von Ŏghein (=Auggen) oder die Habsburger Königin Agnes von Ungarn.


Textauszug (eigene Transkription; Zeilenumbrüche des Originals):


Vro Elli von Leidinkon hat 

ein Stuk reben lit ŏch an deme Jonzenberge nebent

Johans hegenlis gůte git si ŏch ı viertel R


otz wíns. Des alten vogtes kint von Schophein

hant eín zweitel reben in Kínzen von dem geb

ent si iergelich ein eímer Rotz wins und ein man

werch an dem Redingsberge under des walches gůte

davon gít er ŏch ı eimer vol Rotz wins und ein

matten lit ze Kùtz nebent her Růtliebs gůte da

von gít er iergelich anderhalben eímer Rotz wíns

Vogt Schoernli von Basel hat ein halb manwerch

ze Spirlùchern ze Bellinkon und git davon ier

gelich drithalb viertel Rotz wíns. Her B(erchtolt) von

Nùwenvels hat ein hùs und ı hofstat da sin


Trothùs uf stat und ı wingarten ze Bellinkon

und ander gůt davon sol er ein man

werch bùwen lit ze Bellinkon gegen dem malatz

hùse und sol das bùwen ze allen rechten an des gotz

hùs schaden und uf díe Trotten vertigon und

wirt im des wins der sechste teil. von dem allen

git er iergelich ííí ½ sŏn Rotz wíns und von zw

ein manwerchen reben ze Bellinkon ze Bùggen

brunne nebent miner vrowen gůt von Sechingen."

fol. 5r/v


IV Zur Frage der Datierung:  


Der „Alte Berain über (Stetten und) Schliengen“ und der ‚Schliengener Zinsrodel’ (um 1310-1320).  Ein Textvergleich. 

Der 'Schliengener Zinsrodel'  (um 1310-1320)

Die Archivalien des ehemaligen Stiftsarchivs des Klosters Säckingen befinden sich seit dessen Auflösung im Bestand des Generallandesarchivs Karlsruhe.

Mit der Signatur: Urk. Schäfer Rodel-Selekt 44 (frühere Signatur: Urk. 16/34) findet sich auch ein Zinsrodel über Schliengen aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Bei diesem fragmentarisch erhaltenen Urbar (es fehlt offensichtlich der Anfang mit den in Eigenbau bewirtschafteten Gütern des Klosters) handelt es sich um einen echten ‚Rodel’ (lat.: rotulus): eine 14,7 cm breite und 579 cm lange, dicht beschriebene Pergament-Rolle, deren Entstehung aufgrund von Text-, Schrift- und  Sprachvergleichen mit anderen Urkunden des Säckinger Stifts und im Schliengener Bann recht genau auf 1310/20 datiert wird. Der Rodel dokumentiert die Klosterbesitztümer und Abgaben im Einzugsbereich des Schliengener ‚Dinghofs’ („die in den hof ze sliengen hoerent“) und gilt überhaupt als der älteste überlieferte Rodel über die Säckinger Klosterbesitzungen im Mittelalter. Infolge ihrer ungünstigen Überlieferung weisen die Säckinger Klosterarchivalien Urkunden nämlich erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, Rodel und Urbare aber erst seit dem 14. Jahrhundert auf. Die früheste Urkunde, die über die Schliengener Besitztümer des Klosters Auskunft gibt, stammt von 1260; ein 'Dinghof' in Schliengen wird urkundlich erstmals 1306 erwähnt (GLA 16/79). Die Hauptüberlieferung der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist in Zinsrodel (GLA Schäfer Rodel-Selekt 44-49) enthalten; die frühesten Urbare in Buchform betreffen die Dinghofverbände im Aargau, sind aber jünger und erheblich knapper als die ältesten Rodel (GLA 66/7157: erstes Viertel des 14. Jahrhunderts, spätere Nachträge; GLA 66/7158: 1342, Nachträge). 

Direkte Textvergleiche der beiden Handschriften ergeben nun, dass es sich beim vorliegenden, bislang unbekannten Urbar in seinem ersten Teilstück um eine zumindest zeitnah entstandene Abschrift bzw. Parallelausführung des Schliengener Rodels, wenn nicht gar - und das ist begründet anzunehmen- um dessen noch ältere Vorlage handeln muss. Damit wäre es das älteste, den Schliengener Dinghofverband betreffende urbarielle Verzeichnis, möglicherweise aber überhaupt das älteste überlieferte Säckinger Urbar. Entgegen der sonst geläufigen Annahme, Rodel seien - zeitlich wie genetisch - Vorstufen der in Buchform überlieferten Urbare bzw. hätten als deren Vorlage zu gelten, verhält es sich in diesem Fall ganz offensichtlich umgekehrt:  Das Urbar gibt allem Anschein nach den ursprünglicheren Besitzstand des Säckinger Klosters wieder und ist nicht als Kopialbuch des Schliengener Rodels 1310/20 zu betrachten. Es mag einen älteren Rodel als Vorstufe des Urbars gegeben haben, doch ist er nicht überliefert.  

Dies zeigen nicht zuletzt die im Rodel gegenüber dem Urbar dokumentierten Fälle von 'Handänderungen', d.h. zahlreiche  Besitzstandsänderungen bei den auf Erblehensbasis vergebenen Hofstätten, und lässt sich im einzelnen an vielen Textstellen belegen. So finden sich in beiden Handschriften, ganz abgesehen vom gleichen spät-mittelhochdeutschen Sprachduktus und Lautstand, Schreibweisen und Zeichen, die gleichen Vor- und Nachnamen einzelner Grundholden bzw. deren unmittelbare Nachkommen („des ... seligen Erben“; siehe unten) der Folgegeneration. Ganze Textabschnitte erweisen sich in einem Parallelvergleich im übrigen bis auf geringe Abweichungen und Handänderungen als nahezu identisch. Sie machen eine Entstehung der ersten Hälfte des vorliegenden Urbars um etwa 1300, die des jüngeren zweiten Teilstücks, das in etwa dem "Aktualitätsniveau" des Rodels entspricht, um 1320 wahrscheinlich. 

Bestätigt wird dies ferner, wenn extern überlieferte Quellen zwischen 1290 und 1330 berücksichtigt werden: datierte Kauf- und Tauschverträge, Abtretungen und Lehensgüterverschreibungen im Schliengener und Neuenburger Bann, in welchen sich nicht wenige der im Urbar genannten Personen verifizieren lassen.


Exemplarischer Textvergleich:

Der ‚Schliengener Zinsrodel (um 1310-1320)’ ( Schäfer Rodel-Selekt  44, GLA Karlsruhe)

1.  „Alle die hůben es si ze Sliengen ald ze Eggenhein oder swa si ligent  die das gotzhus von Seckingen an hoerent und ín den hof ze Sliengen hoerent  gebent ze valle das beste hŏbt alder aber 1 lb. phenninge. Dù andern gueter alle gemeínlich alse dicke so sich dù hant endert so gebent si alse vil ze erschatze als des zínses ist dem gotzhuse und ist das von alter des gotzhuses recht und hant es die hůber ie und ie erteiltet und ander erber lùte gevolget uf den eit die ze gegeni warent.“  (a.a.O., Abschnitt XI; eigene Transkription;  teilweise zitiert auch in: Friedrich Wilhelm Geier: Die Grundbesitzverhältnisse des Stiftes Säckingen im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1931, S. 40).

2. „Johans hŏwensteins seligen erben hant ein manwerch reben lit an dem Berge nebent dem phade und sùllent das bůwen ze allem rechte und sùllent den win vertigon ze Sliengen ín die trotten, und sol ím (sic!) werden der sechste teil wider und swenne er (sic!) da lesen will so sol er (sic!) an dem abende nach míner frŏwen botten senden und sùllent den essen und trinken geben die wile si da sínt und lit obenan dar an eín manwerch ist sin [übergeschrieben und verbessert:] ir von dem und von anderm guote bůwent si minen frŏwen das vorgenante manwerch.“ (a.a.O., Abschnitt II;  eigene Transkription; teilweise zitiert auch in : Friedrich Wilhelm Geier: Die Grundbesitzverhältnisse des Stiftes Säckingen im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1931, S. 32).

3. „So hant die hůber erteilet und ist von alter des gotzhuses recht swer von dem gotzhuse von seckingen lehen hat es si mínre oder me und gelte vil oder weníng  das die alle sùllent swern trùwe und warheit und des gotzhuses recht ze sprechende und dristunt in dem jare dar komen ze rechtem gedinge ane gebieten. Die hůber hant ŏch erteilet das mín frŏwen von seckíngen sùllent weder sniden noch erren [= ackern, pflügen] noch enheín achte sùllent tůn dem nidern hofe noch keínen dienst.“ (a.a.O., Abschnitt I; eigene Transkription; teilweise zitiert auch in:  Friedrich Wilhelm Geier: Die Grundbesitzverhältnisse des Stiftes Säckingen im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1931,  S. 23).


„Alte Berain über (Stetten und) Schliengen“ (eigene Transkription)

 1. "Alle die hůben es si ze Sliengen ald ze Eggenhein alder wa si ligent die das gotz(hùs) anhoerent und in den hof ze Sliengen hoerent gebent ze valle das beste hŏbt alder aber ı lb ð. Dù andern gueter ellù gemeinlich als dike se sich dù hant endert so gebent si als vil ze Erschaz als ze zìnse dem  gotzhùse und ist das von alters des gotzhùs recht und hant es die hůber ie und ie erteilet und ander erber lùte gevolget uf den eit dìe zegegní waren." (Blatt X, Seite 20)

2. "Johan von Howenstein von Rinwile hat eín manwerch reben lit an dem Berge nebent dem phade und sol das bùwen ze allem rechte und sol den wín antwùrte ze Sliengen an des gotzhùs schaden und sol er den Sechstenteil nemen. Und swenne er da lesen wil das sol er kunden an dem abende der vrowen botten und nach inen senden und sol dien essen und trinken geben alle die wile si da sínt und lit obnan daran ein manwerch von dem und von anderm gůte bùwet er minen vrowen das vorgenante manwerch." (Blatt III, S. 5 f.)

3. "So hant die hůber erteilt und ist von alter des gotzhùses Recht swer von dem gotzhùse ze Sechingen Lehen hat es si minder ald me das díe alle dem Gotzhùs sulen sweren trùwe und warheit und des gotzhùs recht ze sprechenne und dristunt in dem Jare in den hof ze komen ze rechten gedingen an gebieten. Die hůber hant ŏch erteilt das díe vrowen von Sechingen enkeín act sullen tůn níemanne." (Blatt XII, S. 24f.)

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Eine Transkription des Urbar-Textes mit Einleitung, Stellenkommentaren und Registern ist erschienen:

Markus Wolter, Das neu aufgefundene, bislang älteste Urbar des Chorfrauenstifts zu Säckingen; in: "Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins" (ZGO), Band 155, Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 2007, S. 121-213; Band 156, Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 2008, S. 591-665. 

http://www.kgl-bw.de

Ein Mikrofilm des Urbars ist unter der Signatur "Q Privat Nr. 2" im Generallandesarchiv Karlsruhe einsehbar.

vgl.: Eintrag im Marburger Handschriftencensus, eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters: http://www.handschriftencensus.de/

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