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I. valde speciosus  - Geschichte der Stadt Radolfzell im Mittelalter. 

Radolfzell wurde um 826 von Bischof Radolt (Radolf, Ratold) von Verona (Amtszeit 799 bis 840, gestorben um 847) gegründet, nach dem die Stadt ihren Namen erhielt (lat.: Cella Ratoldi). Ältester Überlieferungsträger der Gründungsgeschichte ist eine Reliquienübertragungslegende des Klosters Reichenau und Teil der Sammelhandschrift des Reichenauer „Codex domesticus“. [2][3] Die zur Zeit König Heinrichs I. (919-36) von einem anonymen Verfasser um 930 entstandene Schrift berichtet in der Translationslegende De miraculis et virtutibus beati Marci evangelistae, wie der Veroneser Bischof Radolt auf einer Reise in seine alemannische Heimat auch auf die Klosterinsel Reichenau gekommen sei. Radolt habe den Abt (Haito?) gebeten, ihm die am nördlichen Inselufer gegründete Kanoniker-Zelle Eginos, seines 802 verstorbenen Lehrers und Vorgängers auf dem Veroneser Bischofsstuhl, zu überlassen. Der Abt, der ihm diesen Wunsch nicht erfüllen wollte, habe ihn auf einen anderen, von ihm ausersehenen Ort am gegenüberliegenden Seeufer verwiesen, von dem es in der besagten Reichenauer Schrift heißt:

Est locus valde speciosus, a nostro monasterio segregatus ultra lacum iacens inter aquilonarem et occidentalem plagam spatio duorum milium, in quo erant piscatorum domus nullique alii aptus cultui. Hunc coepit excolere, domos aedificare nec non ecclesiam ad honorem deo in eodem loco construere nominisque sui vocabulum eidem cellulae imponere vocans eam Ratoltescella, quae nunc usque comparet. Quam cum multimodis decoraret ornamentis omnibusque iuxta suae mentis affectum rite patris ad episcopalem sedem, unde venerat, reversus est.



Est locus valde speciosus… Reichenauer Handschrift: Cod. Aug. perg. 84, entstanden um 930


„Dieser Ort nun von dem Kloster jenseits des Sees gegen Nordwesten zwei Meilen entfernt, war überaus lieblich gelegen, jedoch nur von Fischern bewohnt und zu keinem andern Anbau geeignet. Ihn also begann Radolt herzurichten und Wohnungen nebst einer Kirche zur Ehre Gottes daselbst zu erbauen und die so gegründete Zelle nach sich Radoltszelle zu benennen, wie es noch heute ist. Nachdem er sie mannigfach geschmückt und ganz nach seinem Sinne ausgestattet hatte, kehrte er wieder an seinen Bischofssitz zurück.“ [3]

In der Folge habe sich Radolt gegen beträchtliche Summen Geldes in Venedig Reliquien des Evangelisten Markus und in Treviso die Gebeine des Heiligen Senesius und Theopontus erworben. Die Markus-Reliquien habe er 830 in die Reichenau überführt, die letzteren in seiner Zell-Kirche beigesetzt, die wohl bereits früh zu einem Wallfahrtsort der beiden Heiligen, Schutzpatrone der späteren Stadt, wurde.

Im Jahr 1100 kam es unter dem Reichenauer Abt Ulrich II. von Dapfen und mit Zustimmung Heinrichs IV. nach Allensbach „in dem Weiler Radolfs“ (in villa Ratolfi) zur zweiten Marktgründung des Klosters, vermutlich verbunden mit einem eigenen Münzrecht: neben dem Bauern- und Fischerdorf, dem alten reichenauischen Kelhof und der Kirche Radolfs, die in der Obhut eines Chorherrenstifts [4] stand, wurde ein von dem Kelhof getrennter Handelsplatz mit eigenem Recht konstituiert. Die Marktrechtsurkunde von 1100 [5][6] gilt als die früheste in Südwestdeutschland überlieferte Urkunde über die Schaffung eines eigenen städtischen Grund- und Bodenrechts, das im Stadtrecht von Freiburg 1120 weiter ausgebildet wurde. Gleichzeitig wurde die Siedlung erweitert und wenig später mit dem Bau einer Stadtmauer und ihrer vier ältesten Tortürme begonnen, von denen drei neben den Resten der Stadtmauer heute noch erhalten sind. Die Äbte der Reichenau, welche in den Anfängen der Siedlung Grund- und Hofrechte, mithin die unbeschränkte Herrschaft über den Ort als Eigengut des Klosters besaßen, belehnten und vergaben auch das Vogteirecht an Reichenauer Ministerialen, die ihrerseits zusammen mit dem jeweiligen Meier und Schultheiß für die Gerichtsbarkeit bzw. für die recht- und regelmäßigen Abgaben der Zinsbauern (Censualen) und Hörigen an die Reichenauer Lehensgeber zuständig waren. Erst 1267 erhielt Radolfzell die Stadtrechte und wird in diesem Zusammenhang wieder der „rechtmäßigen Gewalt“ eines Reichenauer Abtes (Albrecht von Ramstein) unterstellt, nachdem es zwischenzeitlich der Herrschaft derer von Friedingen, welche Vogt- und Meieramt über Radolfzell ausübten, unterstanden hatte. Aber nicht lange nachdem die Reichenau die Vogtei über Radolfzell zurück erworben hatte, verkaufte im Jahr 1298 der Konstanzer Bischof Heinrich II. von Klingenberg, unter dessen Pflegschaft das äbtelose und hoch verschuldete Kloster Reichenau damals stand, die Vogtei über Radolfzell samt den Dörfern Aach (Hegau), Überlingen am Ried, Böhringen und Reute an die Habsburger unter König Albrecht I. Im Habsburger Urbar zu Beginn des 14. Jahrhunderts wird Radolfzell zusammen mit Böhringen, Überlingen und Reute denn auch - zum habsburgischen Amt Aach gehörig - geführt.[7] Radolfzell sollte die nächsten 500 Jahre nahezu ununterbrochen unter der Herrschaft Habsburg-Österreichs bleiben. Zwar erhielt die Stadt 1415 als Folge der Ächtung Herzog Friedrichs IV. die Reichsfreiheit - Friedrich hatte dem auf dem Konstanzer Konzill weilenden Papst Johannes XXIII. zur Flucht verholfen – doch kam die Stadt 1455 wiederum unter habsburgisch-österreichische Herrschaft, gehörte zur Landgrafschaft Nellenburg und zählte zu den schwäbisch-österreichischen Ständen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Radolfzell_am_Bodensee#Mittelalter

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Anmerkungen:

1. Reichenauer Handschrift: Cod. Aug. perg. 84, fol. 138, in der Bad. Landesbibliothek Karlsruhe; ediert in: Mone, F.J. (Hg.): Quellensammlung der Badischen Landesgeschichte. Erster Band. Karlsruhe: Macklot 1848; hier: Miracula Sancti Marci / Der Heilige Markus zu Reichenau, S. 61-67

2. Digitalisat der Universitätsbibliothek Freiburg, gehe zu Bild 168 ff.

3. Mone, F.J. (Hg.): Quellensammlung der Badischen Landesgeschichte. Erster Band. Karlsruhe: Macklot 1848; hier: Miracula Sancti Marci / Der Heilige Markus zu Reichenau, S. 63.; Übersetzung von P. Albert, in: Geschichte der Stadt Radolfzell, 1896, S. 22.

4. Geschichte des Radolfzeller Kollegiatsstifts Unserer Lieben Frau.

5. Konrad Beyerle: Das Radolfzeller Marktrecht vom Jahr 1100 und seine Bedeutung für den Ursprung der deutschen Städte, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 30 (1901), S. 3-21.

6. Stadt Radolfzell (Hg.): Die Radolfzeller Marktrechtsurkunde vom Jahre 1100: Faksimile-Druck in der Größe des Originals; den Teilnehmern an der 31. Jahresversammlung des Vereins für Geschichte des Bodensees und seine Umgebung am 19. und 20. August 1900 zu Radolfzell dargeboten / von der Stadtgemeinde Radolfzell. Radolfzell, 1900.

7. Radolfzell im Habsburger Urbar, Amt Aach: Digitalisat der ersten vollständigen Edition von 1850.
 

Copyright ©2011 by Markus Wolter, Freiburg

Die hier veröffentlichten Texte und Medien sind - falls nicht anders gekennzeichnet - gemeinfrei im Sinne folgender Creative Commons-Lizenz:

http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/
Namensnennung, Nicht-Kommerziell, Weitergabe unter gleichen Bedingungen.

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Wolter, Markus: Radolfzell im Nationalsozialismus - Die Heinrich-Koeppen-Kaserne als Standort der Waffen-SS, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, Band 129, Thorbecke, Ostfildern 2011, S. 247-286.

Sonderdruck / korrigierte Fassung:


Markus Wolter: Radolfzell im Nationalsozialismus- Die Heinrich-Koeppen-Kaserne als Standort der Waffen-SS.pdf

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Das am 21. März 2010 eingeweihte 'Denkmal der jüdisch-christlichen Geschichte' in Wangen am See.
Der Blick geht durch das Tor auf den Platz der am 10. November 1938 von Radolfzeller SS zerstörten Synagoge.
Fotografie: Maren Stümke, Freiburg.


II. particularly hard - Geschichte der Stadt Radolfzell im Nationalsozialismus.   Von Markus Wolter.

II.1. Machtübernahme und Gleichschaltung

Die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 einhergehende Totalisierung und Ideologisierung des öffentlichen und privaten Lebens vollzog und zeigte sich in Radolfzell wie überall im damaligen Deutschen Reich ebenso ausnahmslos wie umfassend. [1] Bereits am 29. Juli 1932, kurz vor der Reichstagswahl, hatte die NSDAP zusammen mit der NSEAP in Radolfzell eine Wahlkampf-Kundgebung im Mettnau-Stadion mit Adolf Hitler als Redner und vor Tausenden Zuhörern organisiert. [2] Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler kam es am Abend des 30. Januar 1933 in Radolfzell zu einem von der örtlichen SA veranstalteten großen Fackelzug der Parteiorganisationen. 1933/34 erfolgte die Auflösung bzw. 'Gleichschaltung' der politischen Parteien, Betriebe, Behörden und Schulen der Stadt; Umbenennung zahlreicher Straßen und Plätze nach prominenten Nationalsozialisten. Nach dem Brand des Berliner Reichstags und im Vorfeld der Reichstagswahl_vom 5. März 1933 begannen die Nationalsozialisten in ganz Deutschland mit der systematischen Verfolgung ihrer politischen Gegner: auch vor Ort betraf dies insbesondere Sozialdemokraten und Kommunisten und mit dem Reichstagsabgeordneten Carl_Diez (1877-1969), der bis 1945 insgesamt 13 Wochen in 'Schutzhaft' verbrachte, ein Mitglied der katholischen 'Zentrumspartei'. Obwohl nicht eben ein Kritiker der nationalsozialistischen Bewegung, wurde der bisherige Bürgermeister Otto Blesch (1876–1951), der dieses Amt seit 1911 ausübte, zum 1. April 1934 endgültig abgesetzt. Mit seinem Eintritt in die NSDAP am 1. Mai 1933 hatte das ehemalige Mitglied der „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP) versucht, sich auch unter den neuen Machthabern zu halten. Als dessen Nachfolger hob Gauleiter Robert Wagner mit Wirkung vom 1. April 1934 den Kreisleiter und Gauinspekteur Eugen Speer (1887-1936) ins Amt, ein "verdientes" NSDAP-Mitglied aus der "Kampfzeit" (Parteieintritt 1922) und eine frühe, berüchtigte Schlüsselfigur des Nationalsozialismus in der Region (Amtszeit Speers in Radolfzell: April 1934 bis zur förmlichen Amtsenthebung im Juni 1935; Nachfolger: Josef Jöhle). Im selben Jahr verzeichnete Radolfzell eine starke Zunahme der SA-Mitgliederzahl und wurde Sitz der SA-Reiter-Standarte 156. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) nahm am 9. Juli 1934 bei Hausdurchsuchungen in Singen, Radolfzell und Konstanz mehr als 70 Personen fest; ihnen wurde der Besitz  "verbotener, durchweg von der Schweiz eingeschmuggelter Druckschriften kommunistischen Inhalts" beziehungsweise "kommunistische Zellenbildung" vorgeworfen. Am 13. Oktober 1935 verpflichteten sich 180 Amtsträger und 1200 Hauswarte des Reichsluftschutzbundes, Ortsgruppe Radolfzell. Am 25. Oktober 1936 kam es zu einer Großkundgebung der Partei, bei der Reichsstatthalter und Gauleiter Robert Wagner als Hauptredner auftrat. Über 300 Radolfzeller 'Parteianwärter' wurden am 8. Juni 1938 im Scheffelhofsaal öffentlich auf Hitler vereidigt und in die NSDAP aufgenommen. [3] Mit großem propagandistischem Aufwand und wiederum unter Anwesenheit des Gauleiters Robert Wagner weihte der 'völkisch' und antisemitisch gesinnte Leiter des  Berliner Reichsbundes_für_Deutsche_VorgeschichteHans Reinerth, am 10. Juni 1938 auf der Mettnau ein von ihm konzipiertes Freilichtmuseum mit 14 rekonstruierten Steinzeithütten ein. Auf der offiziellen Werbepostkarte ließ das Verkehrsamt der Stadt verlauten, die Rekonstruktionen seien "auch von größter weltanschaulicher Bedeutung" (sic!) und stellte sich selbstredend in den Dienst des nationalsozialistischen Germanenerbe-Pathos. [4]

In die um 1939 rund 8300 Einwohner zählende Stadt wurden während des Krieges etwa 800 Frauen und Männer aus den besetzten Gebieten verschleppt, um dort Zwangsarbeit zu leisten. Die ersten 180 polnischen Zwangsarbeiter trafen bereits am 1. Mai 1940 in der Stadt ein und wurden auf die Landgemeinden verteilt. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 wurden dann vorwiegend Frauen aus der Ukraine in den örtlichen Industriebetrieben, der Schiesser AG, der Gotthard Allweiler AG und den Radolfwerken, als Zwangsarbeiterinnen eingesetzt. [5]  

Das Trikotage-Unternehmen Schiesser AG bekam im 'betrieblichen Leistungskampf' 1939/40 als einer von bis dahin zehn Betrieben im 'Gau Baden' den von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) verliehenen Titel eines 'Nationalsozialistischen Musterbetriebs' zuerkannt. Der 1936 von der DAF erstmals ausgeschriebene Wettbewerb hatte zum Ziel, die Betriebe "mit nationalsozialistischer Gesinnung" zu erfüllen (Robert Ley) und musste dabei folgende Kriterien berücksichtigen: Betriebsgemeinschaft, technische Voraussetzungen und wirtschaftliche Ergebnisse. 1939/40 hatten sich allein aus dem 'Gau Baden' 14776 Betriebe angemeldet und am 'Leistungskampf' teilgenommenfünf Betriebe aus Baden wurden dabei als Musterbetriebe bestätigt, drei weitere, darunter die Schiesser AG und die Singener Maggi Gesellschaft mbH, erstmalig ernannt. DAF-Gauobmann Reinhold Roth hatte im Vorfeld die ideologische Ausrichtung des Wettbewerbs noch einmal verdeutlicht: Die Auszeichnung solle eine Anerkennung "für die zielbewußte Aufbauarbeit an Unternehmen darstellen, deren Weg klar und eindeutig vom nationalsozialistischen Gemeinschafts- und Leistungswillen getragen ist" (Roth in: "Der Führer" [Gauzeitung Badens], 2.6.1939). Von einem NS-Musterbetrieb wurde im ersten Kriegsjahr überdies verlangt, ein "Bollwerk nationalsozialistischer Widerstandskraft zu sein" und "den Rücken unseres Frontheeres (zu) stärken", so Roth bei der Überreichung der Goldenen Fahne der DAF am 1. Mai 1940 in Karlsruhe (zit. nach: Freiburger Zeitung vom 1.5.1940; Digitalisat: hier). 

1943 zeichnete die DAF die Pumpenfabrik Gotthard Allweiler AG, die bereits 1935 erste Rüstungsaufträge für das Reichsluftfahrtministerium bekommen hatte, als 'Kriegsmusterbetrieb' aus. Mit diesem Titel versah die DAF seit Mai 1942 Betriebe höchster 'Rüstungsleistung' und Produktivität unter Vernachlässigung der sozialen Kriterien der 'NS-Musterbetriebe'.

II.2. Die SS-Kaserne Heinrich Koeppen - Radolfzell als Standort der Waffen-SS

Vorgeschichte - Eugen Speer als Initiator einer SS-Garnison Radolfzell

Am 24. Januar 1934 traf sich im Hotel Krone, Radolfzell, ein illustrer Kreis lokaler Nazigrößen. Es galt, den 47. Geburtstag des Konstanzer NSDAP-Kreisleiters Eugen Speer (22.1.1887 - 7.10.1936) „nachzufeiern“. Dabei war Speer an diesem Tag nicht einmal unter den Teilnehmern dieser vermutlich weinseligen Stammtischrunde, sondern absolvierte den für alle politischen Führer obligatorischen Lehrgang an der „Reichsführerschule der NSDAP“ in Bernau bei Berlin. Richard Burk (1892-1956), seit 1931 Kreispropagandaleiter der NSDAP und später der berüchtigte Kreisleiter von Lahr, seine Frau Tilly, G. Pretsch, Emil Ritter und andere Unterzeichnende müssen auf den launigen Gedanken gekommen sein, diese Grußkarte an Speer ins ferne Berlin zu schreiben:



„Sieg Heil, Heil Hitler und freundliche Grüße beim frohen Gedanken an alte Zeiten“.

Vermutlich dachte man zu diesem Zeitpunkt schon mehr an die „neuen Zeiten“, weil man wusste, dass der „alte Kämpfer“ Speer von Gauleiter Robert Wagner für das Amt des Radolfzeller Bürgermeisters ab 1. April 1934 vorgesehen war. Das für die Stadt folgenreiche Verhängnis dieser Personalie nahm jedenfalls in den Januarwochen 1934 seinen Lauf: Speer bekam bei seiner „Weiterbildung“ an der Reichsführerschule Kenntnis von SS-Stationierungsplänen, ergriff Gelegenheit und Initiative und zeichnete für die Umsetzung des SS-Kasernenprojekts in Radolfzell maßgeblich veranwortlich. So unterschrieb er bereits kurz nach seiner Amtseinführung als Bürgermeister Verträge mit Architekten und Bauunternehmern für den Kasernen-Neubau, zu dem die Stadt 55 Hektar ihrer Gemarkungsfläche dem Deutschen Reich als Schenkung überließ. Kritik- und ausnahmslose Unterstützung fand Speer zudem durch die politisch Verantwortlichen in dem von Speer mit „alten Kämpfern“ der NSDAP neubesetzten Gemeinderat (seit 1935 als „Ratsherrenkollegium“ bezeichnet). Die Geburtstagskarte an Eugen Speer erweist sich rückblickend als banal-bedeutungsvolles Dokument der Vorgeschichte des SS-Standortes Radolfzell. (Sammlung Markus Wolter).




„Da die Vornahme einer Wahlhandlung eine Störung der öffentlichen Ordnung oder eine sonstige Schädigung der öffentlichen Interessen befürchten lässt.“ Die offizielle Berufung Speers zum Bürgermeister von Radolfzell mit Wirkung vom 1. April 1934. Quelle: Staatsarchiv Freiburg, A 96/1 Nr. 5245.

Der abgesetzte Bürgermeister, NSDAP-Mitglied Otto Blesch ersuchte in den Jahren nach 1934 um eine „Wiederverwendung“, zunächst im kommunalen Aufgabenbereich und, als ihm dies verwehrt wurde, als Rechtsanwalt. Im Zuge eines internen NSDAP-Vorgangs in der Causa Blesch kam es auch zu einer Stellungnahme des Sicherheitsdienstes (SD) des RFSS, der der NSDAP-Gauleitung Badens bestätigen konnte, dass Parteigenosse Blesch als ein „überzeugter Anhänger der Bewegung“ gelte und sein Verhältnis zur Partei „nie beanstandet“ worden sei. (vgl. die DNZ-Akte Blesch, StAF D189/2-12250)

Blesch selbst hat später in seiner Selbstrechtfertigung im Rahmen der Denazifizierung behauptet, die Mitgliedschaft in der NSDAP sei ihm von Kreisleiter Eugen Speer mit der Drohung abverlangt worden, seine „Entfernung aus meinem Amte auszusprechen, wenn ich seiner Aufforderung nicht entsprechen würde. Unter diesem Drucke entsprach ich diesem Begehren.“ (StAF D189/2-12250) 

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Auf Initiative von Bürgermeister und NSDAP-Kreisleiter Eugen Speer (1887-1936), der sich für diesen Standort nachdrücklich eingesetzt hatte, wurde Ende 1935 im Nordwesten der Stadt mit dem Bau einer weiträumigen Kaserne der Schutzstaffel (SS) begonnen [6].  

Die seit dem Tod ihres ersten Kommandanten Heinrich Koeppen* ab Oktober 1939 nach diesem benannte SS-Kaserne wurde am 31. Juli 1937 mit dem bejubelten Einzug einer SS-Verfügungstruppe (VT), des 1935 bei Soltau aufgestellten III. Bataillons ('Sturmbanns') der SS-Standarte 'Germania' belegt und in den Folgejahren von wechselnden Verbänden der Waffen-SS genutzt.

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Stationiert waren bis wenige Wochen vor Kriegsbeginn 1939 das Bataillon der SS-Verfügungstruppe, daraufhin bis November 1939 übergangsweise zwei Kompanien der SS-Verfügungstruppen-Flugabwehr-MG-Abteilung, ab Dezember 1939 das zuvor in Breslau aufgestellte SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatz-Bataillon I (im Dezember 1940 zunächst nach Stralsund und dann nach Warschau verlegt), sowie 1940/41 ein SS-Gruppenführer-Lehrgang. Nach Abzug des Totenkopfverbandes wurde mit Wirkung vom 15. Februar 1941 durch das SS-Führungshauptamt und auf Befehl des 'Reichsführers SS', Heinrich Himmler, „zur Sicherung eines geeigneten Unterführernachwuchses“ die SS-Unterführerschule Radolfzell in der Heinrich-Koeppen-Kaserne stationiert. [7] 

Zwischen Mai 1941 und Januar 1945 befand sich zudem ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau auf dem Kasernenareal. [8]

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SS-Kaserne 'Heinrich Koeppen' - Stabsgebäude, Einfahrt mit Wache.
Bildkarte, gelaufen 1940. Papiergeschäft Buck, Radolfzell. Fotograf unbekannt.


*Heinrich Koeppen (1890-1939), SS-Obersturmbannführer, NSDAP Partei-Nr. 2945573, SS Nr. 124402. Usf 9.11.34, Osf 1.6.35, Hsf 15.9.35, Sbf 30.1.37, Obsbf 20.4.38.
Ab 28.11.1936 Kommandeur des 1935 in Wolterdingen bei Soltau aufgestellten III. Bat./SS-Standarte ‚Germania’ unter Regimentskommandeur SS-Standartenführer Karl_Maria_Demelhuber; SS-Oberabschnitt Nordwest unter Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, der Koeppen und sein Bataillon am 29. Juli 1937 in Wolterdingen verabschiedete.  Bataillonsstärke bei der Verlegung nach Radolfzell:  27 Führer (Offiziere), 175 Unterführer (Unteroffiziere) und 586 Mannschaftsdienstgrade, 89 Pferde.   
Verlustreicher Einsatz des motorisierten Infanterie-Bataillons beim Überfall auf Polen ab 1. September 1939, unterstellt dem AOK 14. 
Koeppen starb in Kampfhandlungen bei Jaworow, Muzylowice, Nähe Lwow (Lemberg), am 15.09.1939; ebenso sein Adjutant SS-Obersturmführer Rudolf SCHOMBURG (1908-1939); vgl. hierzu: Ryszard Dalecki, Armia "Karpaty" w wojnie obronnej 1939, Warschau 2009.   

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"Radolfzell empfängt die SS" - Titel des eigens für das eingerückte VT-Bataillon aufgeführten 'Festspiels'

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Marktplatz Radolfzell, 31. Juli 1937. Heinrich Koeppen (rechts vorn mit Helm)
wird salutiert. Privatfotografie, Urheber unbekannt. Militärarchiv Freiburg.

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Die gleichgeschaltete Lokalpresse berichtete wie folgt, Ergänzungen in (recte):

"Radolfzell, die neue Garnison!  Ein Tag von geschichtlicher Bedeutung!" 

"In dem Eifer, mit dem die Vorbereitungen für den Empfang der Truppe getroffen wurden, spiegelte sich die Freude über die Tatsache, daß Radolfzell nun Garnisonsstadt geworden ist. (...). Die Stadt hatte in den Straßen, durch die die Truppe zog, Triumphbogen errichten lassen. Von riesigen Fahnenmasten, aus allen Häusern wehten die Fahnen! Die Truppe war am Vormittag in Singen ausgeladen worden und trat trotz des Regens um die Mittagszeit den Marsch nach Radolfzell an. Hier hatte sich inzwischen auf dem Marktplatz eine riesige Menschenmenge angesammelt. Die Angehörigen der Formationen und die militärischen Vereine bildeten entlang der Durchmarschstraßen Spalier. Die Angehörigen des BDM trugen vielfach Blumensträuße in den Händen um sie als ersten Willkommensgruß der Truppe zu überreichen. (...).

Vor dem Rathaus hatten sich die Spitzen der Partei und der Behörden und zahlreiche geladene Gäste versammelt, an der Spitze Oberführer (Walter) Stein** aus Konstanz, Landrat (Carl) Engelhardt***, Landeskommissär (Gustav) Wöhrle****, der Wehrbezirkskommandeur, Generalmajor (Egon) von Groeneveld (1876-1945), (...), die Vertreter der Stadt Radolfzell, Bürgermeister (Josef) Jöhle (1935 bis zu seinem Tod 1942 im Amt) mit den Ratsherren, die Leiter der staatlichen und städtischen Behörden usw. (...). Nach dem Einmarsch meldete der Kommandeur des Sturmbannes, Sturmbannführer Koeppen, das Eintreffen der Truppe Oberführer Stein. Dann bestieg Bürgermeister Jöhle das Rednerpult, um den Gästen einen herzlichen Willkommensgruß zu entbieten. Der Kommandant der Truppe, Sturmbannführer Koeppen, erwiderte die Grüße ebenso herzlich. Er gab dem Wunsche Ausdruck, daß es gelingen möge, bald innige Bande des gegenseitigen Verstehens zwischen Truppe und Bevölkerung zu knüpfen. (...)."


















Empfang am Rathaus.
Erste Reihe, 6. v. links: Bürgermeister Josef Jöhle (in Parteiuniform und mit Amtskette),
rechts daneben in Zivil: Gustav Wöhrle, Walter Stein (schwarze SS-Uniform),
Carl Engelhardt (abgewandt), n.n. (SS-Angehöriger), Egon von Groeneveld (im Mantel der Wehrmachtsuniform) u.a.
Fotografie vom 31. Juli 1937. Urheber unbekannt.


** SS-Oberführer Walter Stein (1896-1985) (NSDAP Partei-Nr. 255956, SS Nr. 12780. Sf 1931, Shf 1932, Sbf 1933, Obsbf 1933, Standf 1934, SS-Oberführer 1.1.1936, Führer der Allgemeinen SS im SS-Abschnitt XXIX, Konstanz (15.3.1936- November 1939), befehligte in der Reichspogromnacht 1938 maßgeblich und mit tatkräftiger Unterstützung der Radolfzeller SS die Zerstörung der Konstanzer Synagoge. Weitere Stationen seiner Polizei- und SS-Karriere: Im August 1940 entschied das SS-Personalhauptamt, Berlin, SS-Oberführer Walter Stein sei "für eine Verwendung als Polizeiverwalter vorgesehen": Zunächst Interimsdienststellung an das Polizeipräsidium von Danzig (August 1940-November 1940); am 15. März 1941 und auf Anordnung seines obersten Dienstherrn, "Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei', Heinrich Himmler, wurde Stein Polizeidirektor in Torun (Thorn), ab 1. Oktober 1941 kommissarischer, ab 10. Februar 1942 endgültiger Polizeipräsident in Danzig; daselbst SS-Standortführer. Ernennung zum SS-Führer im Reichsicherheitshauptamt (RSHA) (1.10.42). Ab 1. Februar 1944 sollte Stein dann als SS- und Polizeiführer (SSPF) nach Warschau, was krankheitsbedingt revidiert wurde. Vom 1. November 1944 bis 18. Januar 1945 war er schließlich Polizeipräsident von Łódź ('Litzmannstadt'). 1946 wurde Stein von den Amerikanern in einem Versteck in Bayern aufgespürt und wegen Kriegsverbrechen in Torún an Polen ausgeliefert und in Danzig 1949 zu einer siebenjährigen Haft verurteilt (Freilassung 1953, Rückkehr nach Deutschland). Seine Straftaten in Konstanz, vor allem die erst 1962 vor dem Landgericht Konstanz zur Anklage gebrachte schwere Brandstiftung vom 10. November 1938, blieben juristisch ungesühnt, da deren Verjährungsfrist bereits abgelaufen war.

***Landrat und NSDAP-Kreisleiter Carl Engelhardt (1901-1955). Zu dieser verhängnisvollen Personalie von Robert Wagners Gnaden, der den 'alten Kämpfer' und Hitler-Freund Engelhardt als Landrat installierte, vgl.: Michael Ruck: Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972. München, Oldenbourg 1996, S. 157 ff.

**** Landeskommissär Gustav Wöhrle (1875-1954). Zum nicht minder aufschlussreichen Fall Gustav Wöhrle siehe: Michael Ruck, a.a.O., S. 202 ff.      


"Radolfzeller Eigenheiten"

Die Fortsetzung des Zeitungsberichts geht auf das abendliche 'Festspiel' ein (wiederholt am 1. August 1937) und macht unfreiwillig deutlich, wie gefährlich unbedarft das Radolfzeller Jubeln war:

"Am Abend fand im Scheffelhof die Aufführung des Festspiels 'Radolfzell empfängt die SS'  statt, das nach der Idee von Ratsherr Max Wolf (Vorstand der Allweiler AG 1926-1946) von Frau A.(nna) Schreiber-Baer verfasst wurde. (...). Dem Spiel lag der Gedanke zugrunde, die Gäste aus Norddeutschland mit den Radolfzeller Eigenheiten vertraut zu machen. Auf der Bühne waren die bekannten Radolfzeller Typen zu sehen, die zunächst ihre Freude über die Ankunft der SS Ausdruck gaben. Sie sind ängstlich wegen ihrer Radolfzeller Mundart und bemühen sich, Schriftdeutsch zu sprechen, damit sie von den neuen Mitbürgern auch verstanden werden. Marktfrauen aus der benachbarten Höri, städtische Arbeiter, alte Radolfzeller Typen treten auf, die Schiesser-Arbeiterinnen, Allweiler-Arbeiter, ein Thurgauer, Radolfzeller Trachtenmädchen. Nun entwickelte sich ein Spiel, das in urwüchsiger Sprache die Empfindungen der Radolfzeller über die Ankunft der SS zum Ausdruck brachte. (...). Daß die Aufführung auch den Angehörigen der Truppe gefallen hat, das bewies der freudige Beifall, den sie immer wieder spendeten. (...).  Im zweiten Teil des Abends kamen dann unsere einheimischen Künstler zu Wort und wir dürfen wohl ohne Übertreibung sagen, daß wieder Hervorragendes geleistet worden ist." (Deutsche Bodensee-Zeitung, Ausgabe vom 2. August 1937, Nr. 177).


III./SS-VT-Standarte "Germania" in Radolfzell (31.7.1937-18.8.1939)

Die Stadt unternahm offenkundig den Versuch, sich Himmlers Elitetruppen-Aufmarsch mit einer beklemmenden Mischung aus schenkelklopfendem Mundarttheater und einer Art nationalsozialistischem 'Narrenspiegel' anzudienen und war bereit, das Ereignis wie selbstverständlich zu integrieren. Die SS-Verfügungstruppe ihrerseits machte sich in Radolfzell durch ihre öffentliche Präsenz bei örtlichen Traditionsfesten, das Abhalten von "Sonnwendfeiern", Appellen und Ehrenparaden zum jährlichen "Heldengedenktag" bei der Bevölkerung beliebt und beeinflusste das soziale Leben der Stadt auf vielfältige Weise. Die historischen Konsequenzen mögen an jenem "denkwürdigen" Abend wohl nur Wenigen in Radolfzell klargewesen sein; sie sollten indessen nicht lange ausbleiben.

Mit der Stationierung wurde die periphere Kleinstadt zu einem nicht unbedeutenden, innerhalb der Organisationsstruktur der SS-Verfügungstruppen sogar prominent zu nennenden Ort: Die insgesamt zunächst drei, nach 1938 vier SS-Standarten waren an nur neun Standorten im gesamten Deutschen Reich mit ihren Regimentsstäben und Bataillonen stationiert (Stand: Juli 1939): Berlin (‚Leibstandarte Adolf Hitler’), München, Ellwangen (SS-Standarte ‚Deuschland’) , Hamburg, Arolsen und Radolfzell (SS-Standarte ‚Germania)’, Wien, Graz und Klagenfurt (SS-Standarte ‚Der Führer’). [9] 

Radolfzell war damit organisatorisch eingebunden in das SS-System und seiner Verbrechen, für deren Planung und reibungslose Umsetzung auch vor Ort bereitwillig die Voraussetzungen geschaffen wurden. Die Garnison war in den Folgejahren für die Szenarien des zuständigen SS-Führungshauptamtes in Berlin eine sichere Planungsgröße: Personal und SS-Einheiten wurden je nach Bedarf  in mehreren Rochaden ausgewechselt.

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Das Radolfzeller VT-Bataillon, das bei seiner Verlegung noch ein pferdebespanntes Infanterie-Bataillon war und erst in Radolfzell zu einem stark motorisierten Verband aufgerüstet wurde, nahm noch im September 1937 wie auch 1938 am 'Reichsparteitag' in Nürnberg teil und stellte den Begleitschutz für den italienischen Diktator Benito Mussolini bei dessen Staatsbesuch und Fahrt von München über Essen nach Berlin zwischen dem 25. und 30. September 1937; Präsenz bei der so genannten "Maifeld-Kundgebung" Hitlers und Mussolinis vor dem Berliner Olympia-Stadion am 28. September 1937.  




SS-Begräbnis von Oberscharführer W. Kullinat, Städtischer Friedhof Radolfzell,
Westportal, Dezember 1937. Privatfotografie, Urheber unbekannt.

Hinter dem Sarg sind u.a. SS-Oberführer Walter Stein (Mitte) und Kasernenkommandant 
Heinrich Koeppen (rechts, halb verdeckt) zu erkennen.  




Appell einer 'Ehrenkompanie' der III./SS-Standarte Germania.
Eröffnung einer 'Handwerks-Leistungsschau' 1938, Markthallenstraße.
Im Hintergrund rechts die Viehhalle und der später sogenannte Jahrhundertbau,
das von Schiesser im Jahr 1900 errichtete Firmengebäude in der Sankt-Johannis-Straße.
Foto Liedl, Radolfzell.




III./SS-Standarte Germania. Schießübung. SS-Kaserne Radolfzell.
Privatfotografien. SS-Untersturmführer Fritz Ganzenmüller, SS-Nr. 326411. Abzug Foto-Sutter 1938.





 


III./SS-Standarte Germania. Vereidigung (Fahneneid) von SS-Anwärtern auf Adolf Hitler. 
2-cm-Flak 30. SS-Kaserne Radolfzell. Privatfotografien. Fritz Ganzenmüller. 1938.




Die III./SS-Standarte „Germania“ nahm zusammen mit dem gesamten Regiment unter Standartenführer Demelhuber an den Reichsparteitagen der NSDAP 1937 und 1938 in Nürnberg teil. Die folgende Fotografie wurde beim Reichsparteitag im September 1938 aufgenommen und zeigt Demelhuber zusammen mit den drei Bataillonskommandeuren der SS-„Germania“; von links nach rechts: SS-Obersturmbannführer Werner Dörffler-Schuband (Kdr. I. Bataillon, Hamburg-Veddel), SS-Sturmbannführer Herbert Otto Gille (Kdr. II. Bataillon, Arolsen), SS-Standartenführer Demelhuber und SS-Obersturmbannführer Heinrich Koeppen (Kdr. III. Bataillon, Radolfzell). Fotografie Heinz Hillebrecht. Sammlung Markus Wolter.




26. Februar 1939: RFSS Heinrich Himmler, SS-Oberabschnittsführer "Südwest" Kurt Kaul (links), dahinter SS-Obersturmbannführer Heinrich Koeppen u.a. beim Abschreiten einer Ehrenkompanie der III./SS-Standarte „Germania“ in Stuttgart, Horst-Wessel-Str., Kgl. Reithaus (Salucci), gegenüber dem Württembergischen Staatstheater. Heinrich Himmler hielt an diesem Tag eine Rede vor dem Führerkorps des SS-Oberabschnitts Südwest im Großen Saal des Staatstheaters und befahl zu diesem Anlass die Ehrenkompanie und das Musikkorps der SS-Germania aus Radolfzell nach Stuttgart. Fotografie Heinz Hillebrecht. Sammlung Markus Wolter.




Das SS-Bataillon aus Radolfzell war an der Annexion Österreichs (März 1938), der Beset­zung der Sudeten­deut­schen Gebiete (Oktober 1938) und der Zerschlagung der Tschechoslowakei (März 1939) beteiligt. Radolfzeller HJ und BDM begrüßen die Prag-"Heimkehrer" am 30. Juni 1939 auf dem Hindenburgplatz; SS-Obersturmbannführer Heinrich Koeppen (in seinem PKW stehend) nimmt die Vorbeifahrt der LKW und Kradschützen ab. Fotografie Heinz Hillebrecht. Sammlung Markus Wolter

 



 Am 19. August 1939 erging über OKW der Befehl Hitlers, die Truppenteile der SS-Verfügungstruppen mit sofortiger Wirkung dem Oberbefehlshaber des Heeres zu unterstellen.  Ihre Verwendung regelte der Oberbefehlshaber des Heeres nach den von Hitler gegebenen Weisungen: Eingebunden in die 14. Armee der Wehrmacht gehörte das Radolfzeller SS-Bataillon zu den von Süden in Richtung Krakau - Lemberg angreifenden Truppen beim deutschen Überfall auf Polen (1. September 1939), nachdem es bereits am 18. August von Radolfzell abmarschiert war.

Am 10. Oktober 1939 wurden drei Standarten der SS-Verfügungstruppe zur  SS-Verfügungsdivison (VT-Division) umgeformt, neu positioniert und bildeten mit den Totenkopfstandarten unter Kommando von Theodor Eicke den Grundstock der Waffen-SS. Die Verfügungstruppen Fla-MG-Abteilung wurde im Juni 1939 auf dem Truppenübungs­platz „Bergen" zunächst nur in Kompaniestärke aufge­stellt. Im August 1939 verlegte die Einheit nach Ostpreu­ßen und bezog in Bladiau (ca. 40 km südwestlich Königs­berg) Quartier. Während die Kompanie schließlich der Panzer-Division „Kempf" unterstellt war, wurde im September in Radolfzell mit der Aufstellung der beiden anderen Kompa­nien begonnen. Diese wurden im November 1939 der SS-Verfügungs-Division zugeführt.

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Das Reichspogrom am 9.10. November 1938

Innerhalb einer mit SA, allgemeiner SS und Gestapo abgestimmten Aktion sprengte die SS-Verfügungstruppe unter Kommandeur Heinrich Koeppen im Verlauf der Reichspogromnacht am 9./10. No­vem­ber 1938 die Syna­gogen von Konstanz,  Gailingen und Randegg (Gottmadingen), brannte die Synagoge von Wangen nieder und drangsalierte die jüdische Bevölkerung in der Region. An der Synagoge in Konstanz und in den Kellern der Rathäuser von Wangen, Horn, Gailingen und Randegg kam es zu schweren Misshandlungen von Juden durch Radolfzeller SS. Fast alle männlichen Juden aus Konstanz und der Höri wurden in der Folge für mehrere Wochen ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. [10]

In Radolfzell selbst gab es 1938 keine Juden mehr; die jüdische Familie Josef Bleicher, die ein Textilgeschäft in der Schützenstraße geführt hatte, war bereits 1936 nach Haifa ausgewandert.

Zeitzeugen erinnern:

Reichspogrom in Wangen und Horn/Gaienhofen

Besonders eindringlich sind die Erinnerungen von Dr. Erich Bloch, Sohn des Vorstehers der Konstanzer jüdischen Gemeinde, Rechtsanwalt Moritz Bloch. Der studierte Jurist, Dozent, Verlagslektor und Landwirt Erich Bloch (1897-1994) war mit dem Wangener Dichter des Landjudentums Jacob Picard befreundet, lebte nach seinem Studium von 1922 bis 1929 selbst in der jüdisch geprägten Landgemeinde Wangen als freier Schriftsteller und Publizist, nach 1933 bis 1938 schließlich in Horn, wo er ein kleines Landgut, den Michaelshof, als biologischer Gemüsebauer bewirtschaftete und wo auch Jacob Picard 1938 zeitweilig lebte und mithalf. Seine Erinnerungen und Bücher hat Erich Bloch nach seiner Flucht, Emigration nach Palästina und Rückkehr nach Deutschland veröffentlicht; unter anderem sind von ihm erschienen:

Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Konstanz, Stadler 1971. Dritte Auflage: 1996.
Das verlorene Paradies. Ein Leben am Bodensee 1897-1939. (Gesprächsprotokolle) Bearbeitet von Werner Trapp. Hrsg. v. Stadtarchiv Konstanz (=Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, Bd. 33). Sigmaringen, Thorbecke 1992.
Fluchtpunkt Höri. In: Frei, Alfred / Runge, Jens (Hg.): Erinnern, Bedenken, Lernen. Sigmaringen, Thorbecke 1990, S. 157-166.  
 
Erich Bloch fuhr am frühen Morgen des 10. November 1938 von Horn nach Konstanz, um dort wie jeden Donnerstag Gemüse anzuliefern:

"Etwa gegen halb sechs sah ich, wie Kolonnen der SS, zehn Lastwagen, Richtung Wangen fuhren. Da habe ich alles gewusst. Dort gibt es eine jüdische Gemeinde, eine Synagoge, jetzt werden die Juden drangsaliert. (...) Unterwegs, an der Weggabelung von Moos nach Bankholzen, standen SS-Posten. Und hinter der Brücke in Radolfzell standen SS-Posten. Ich habe mir gedacht, ich werde schon gemeldet werden, meine Nummer, wenn man mich sucht . (...)."

Nach der Rückkehr von Konstanz, wo Bloch erfahren musste, dass sein 70jähriger Vater abgeholt worden war und wo er Zeuge der dortigen Synagogen-Zerstörung durch die SS wurde, geriet er in Horn selbst in die Hände der Radolfzeller SS:

"Ich kam dann ins Rathaus, und im Rathaus saß der Ratsschreiber Auer (...), bei ihm standen noch zwei SS-Leute, ein Offizier und ein Untergebener, im Rathaus selbst überall junge SS-Leute. Der SS-Offizier hat daraufhin mit Radolfzell telephoniert, was man mit mir machen solle, man habe mich gefunden, ob man mich gleich forttransportieren oder dort verhaften lassen solle. Es gab im Rathaus ein kleines Nebenzimmer, das abgeschlossen war mit einem Gitter - also einen kleinen Arrest (...). Da waren Burschen im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren, so übel zugerichtet, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. (...) Nach etwa zehn Minuten hat man mich herausgenommen und in den Keller geführt und hat mich - ich musste mich auch ausziehen - mit Geißeln und Stahlruten halb tot geschlagen." (Erich Bloch: Das Ende einer Illusion. Der 9. November 1938 in Konstanz und der Höri, in: ders.: Das verlorene Paradies, a.a.O, S. 115-122.)

In Wangen lebte damals auch Erich Blochs Sohn aus erster Ehe, Walter Bloch, zusammen mit dessen Mutter in einem Haus in der Nähe der Synagoge. Wie jeden Morgen war der damals zehnjährige Junge auch am 9. November 1938 in der Schule:

"'Mitten im Unterricht kam ein SA-Mann in die Klasse. Mit barscher Stimme fragte er, ob es noch Juden auf dieser Schule gäbe, und der Lehrer deutet gehorsam auf unsere Judenbank. "Raus mit euch!" schrie er uns Kinder an. Wir schnappten unsere Taschen und Mäntel und gingen hastig an ihm vorbei; unser Lehrer verzog keine Miene. Keiner sagte ein Wort. Das war mein letzter Schultag in Deutschland.'
Zuhause erlebte Walter Bloch, wie dann am 10. November 1938 die Synagoge von Radolfzeller SS-Leuten angezündet wurde: 'Wir standen hinter der Gardine und beobachteten alles. Die Feuerwehr war vorgefahren. Aber die Männer stiegen nur ganz gemütlich aus dem Wagen und machten keine Anstalten, den Brand zu löschen. (...) Wir saßen zusammen, und jeder von uns fragte sich: was würde als nächstes passieren? Ich hatte schreckliche Angst.'

Eine weitere Zeitzeugin des Pogroms in Wangen ist Dr. Hannelore König-Wolf (1925 - 2012), Tochter des Wangener Arztes Nathan Wolf (1882-1970). In ihren Erinnerungen berichtet sie, wie sie am Morgen des 10. November 1938 bei ihrer Rückkehr aus der Schule in Stein am Rhein bereits am Zoll erfahren habe, dass die Synagoge in rauchenden Trümmern liege. Zu Hause erfuhr sie, was am frühen Morgen geschehen war: "... mehrere SS-Leute drangen ins Wohnzimmer. Als mein Vater fragte, was sie wollten, wurde er angeschrien, er solle mitkommen. Einer der SS-Leute hatte in einem Schränkchen die Orden gesehen, mit denen mein Vater im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet wurde. 'Was, Du Schwein willst im Krieg gewesen sein!?' Dann musste mein Vater in Begleitung der SS-Leute ins Rathaus gehen", wo er zusammen mit den anderen festgenommenen Wangener Juden -Alfred und Emil Wolf, Dr. Otto Blumenthal vom Oberbühlhof - festgehalten und schwer misshandelt wurde. In den Zeugenberichten der Staatsanwaltschaft Konstanz liegt eine Aussage Nathan Wolfs vom 10. März 1946 vor: "Nach einer Weile wurde zuerst ich aus dem Arrest geholt und im Kohlenkeller (des Rathauses) von vier SS-Männern mit armdicken Prügeln in bestialischer Weise geschlagen, hauptsächlich auf Rücken und Arme, wobei ich mehrere Male zusammenbrach. (...). Noch am selben Abend wurden wir ins Konstanzer Gefängnis überführt und am nächsten Abend  (...) über Stuttgart und München nach Dachau." (Staatsarchiv Freiburg 178/2, Nr. 41, Bd. 1, S. 109)

Einziger nichtjüdischer Bürger unter den Festgenommenen war der Wangener Schreinermeister Engelbert Hangarter, weil dieser sich während des Pogroms 'judenfreundlich' verhalten habe: "Als die Synagoge angezündet worden war", so erinnert sich Dr. Hannelore König, "war er dort hingegangen und hatte zu den SS-Leuten gesagt, dass es ein Unrecht sei, ein Gotteshaus anzuzünden und so mit den Juden umzugehen." Die SS-Leute misshandelten auch ihn und verletzten ihn schwer. Nachmittags kamen die Bewohner des Oberdorfes, um sich die rauchenden Trümmer der Synagoge anzusehen. Wer die Reste der Thorarolle und einige andere Gegenstände aus der ausgebrannten Synagoge gerettet hat, ist nicht bekannt. Nach dem Krieg konnten sie an die Kreuzlinger Gemeinde übergeben werden. Am Abend dieses Tages entließ der Ortsgendarm die misshandelten Männer, da er keine weiteren Befehle hatte. Doch noch in derselben Nacht kehrte die Konstanzer Gestapo zurück und nahm die Wangener Juden in Schutzhaft, um sie dann ins Konzentrationslager Dachau zu überführen. Im Rathaus in Horn war Gleiches geschehen: auch hier waren die jüdischen Männer des Michaelshofes verhaftet und misshandelt worden. In der Nacht hielt der Transport aus Wangen auch in Horn, um Erich Bloch abzuholen. Doch da der Gestapo-Mann den blutüberströmten Mann für einen Sterbenden hielt, blieb Erich Bloch vom KZ verschont. Dass noch weitere jüdische Männer auf dem Hof lebten, übersah man in der Eile. Als die Männer nach vier Wochen nach Wangen zurückkamen, hatte sich das Leben im Dorf verändert. Schon zuvor hatten selbst Freunde es vermieden, mit den im Dorf verbliebenen Juden tagsüber zu sprechen, manch einer kam des Nachts, um ihnen zu versichern, wie leid ihm das alles tue. Nun blieben oft auch diese Besuche aus. Emil Wolf wurde gleich nach seiner Entlassung aus dem KZ nach Singen ins Krankenhaus gebracht, wo er einige Wochen später verstarb. Alfred Wolf wurde zusammen mit seiner Frau und fünf weiteren Wangener Jüdinnen am 22. Oktober 1940 aus Baden verschleppt und ins KZ nach Gurs verbracht. Fünf von ihnen wurden Opfer des Holocaust. Erich Bloch konnte noch nach Palästina flüchten, Nathan Wolf nach Stein am Rhein. Walter Bloch hatte das Glück, mit einem der letzten Kindertransporte nach England zugelangen. (Vgl.: Manfred Bosch: Als die Freiheit unterging, Konstanz 1985, S. 316 ff. und vor allem das große Interview von Manfred Bosch mit Hannelore König: ‚Hitler war weg und wir waren da’ – Manfred Bosch im Gespräch mit Hannelore König, in : Hegau 64/2007, a.a.O.)   

Reichspogrom in Gailingen:

Der damalige Dorfarzt Sigmund Heilbronn erinnerte 1956 seine Erlebnisse in der Pogromnacht in einem Brief an einen Konstanzer Freund:

"An jenem Novembertag (10. November 1938) wurde ich ins Ortsgefängnis Gailingen gebracht und um 11 Uhr morgens herausgeführt, um Zeuge zu sein, wie unser Gotteshaus, die Synagoge, in die Luft gesprengt wurde. Im Keller desselben Rathauses, wo mein Großvater von 1870 bis zu seinem Lebensende im Jahre 1884 Bürgermeister war, wurde ich dann von SS-Leuten aus Radolfzell mit Peitschen, an denen Bleiklötze befestigt waren, ausgepeitscht, von dort kam ich ins Konzentrationslager Dachau." (Friedrich, E. / Schmieder-Friedrich, D.: Die Gailinger Juden, Konstanz 1981, S. 111-121).

Jenny Bohrer, Ehefrau Mordechai Bohrers, des letzten Ortsrabbiners von Gailingen, der an diesem Tag ebenfalls nach Dachau verschleppt wurde, wo er am 30. Dezember 1938 starb, brachte 1943 in Israel ihre Erinnerungen zu Papier:
 
Sie schildert, wie ihr Mann geschlagen wurde, die Gestapo das Rabbinatszimmer verwüstete und sie den Schlüssel zur Synagoge aushändigen musste:
"Eine große Menge S.A. (sic), alles Ortsfremde, machten sich an der Synagoge zu schaffen, schleppten alle Teppiche heraus, warfen Bänke zusammen, rissen Lampen herunter (...)."  Die jüdische Gemeinde wurde in der Turnhalle untergebracht. "Sie hatten alle Kranken, alle gebrechlichen Alten aus den Häusern und Betten geschleppt. (...)." Später mussten sie sich in einem Zug in Zweierreihen aufstellen und es ging auf die Dorfstraße zu: "Stumm bewegte sich der Judenzug durch das Dorf. Die Straße war menschenleer. Die Gojim sagten später, daß dieser Zug etwas Furchtbares gewesen wäre in seiner stoischen Ruhe. Keiner weinte, keiner schrie, keiner flehte um Erbarmen. Als wir uns der Synagoge näherten, sahen wir eine Unmenge S.A.-Leute (sic), die Zündschnüre hin- und hertrugen. Unmittelbar vor der Synagoge hieß man uns stillstehen und in dem Augenblick erfolgte eine kolossale Detonation."

(Vgl.: Jenny Bohrer: Die Frau eines Rabbiners erinnert sich (1933-1938). Hrsg. v. Horst Reichhardt. Neuauflage. Schaffhausen, Loco-Verlag 2005.)


Reichspogrom in Konstanz

"Die Bude muss weg!" Durch Zeugenaussage belegter Ausruf des SS-Oberführers Walter Stein am 9. November 1938 an der Konstanzer Synagoge, deren Zerstörung er maßgeblich befehligte bzw. koordinierte.

"Als die Synagoge nicht so brannte, wie man es erwartete, erging an den Leiter der SS-Germania in Radolfzell der Befehl, ein Sprengkommando zu schicken. Dieses kam nach 6 Uhr früh an. Man sperrte alle Straßenzugänge ab, warnte die benachbarte Bevölkerung und alarmierte die Feuerwehr zum Schutz der Nachbargebäude.
Zwischen 7 und 8 Uhr (10. November) brachten drei Sprengladungen die Synagoge teilweise zum Einsturz, so daß der Dachstuhl in hellen Flammen stand. (...) Gegen 10 Uhr wurde der Feueralarm für beendet erklärt, die Synagoge war (...) nur noch ein
 Trümmerhaufen." (vgl.: Erich Bloch in: Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Konstanz 1996, S. 146)   

"Die Feuerwehr wäre mit aller Sicherheit mit den fanatischen jungen Angehörigen der SS Germania zusammengestoßen, wenn sie versucht hätte, das Feuer in der Synagoge zu löschen. (...). Tatsächlich habe ich nicht den Befehl im Zusammenhang mit dem Synagogenbrand gehabt, sondern SS-Sturmbannführer Koeppen." (Der ehemalige SS Oberführer Walter Stein in einer Vernehmung am 1. Oktober 1962 vor dem Landgericht Konstanz, wo ihm wegen schwerer Brandstiftung in der Reichspogromnacht 1938 der Prozess gemacht wurde, der wegen Verjährung mit einem Freispruch endete. [11]

 



Die in der Reichspogromnacht von Konstanzer Allgemeiner SS zunächst in Brand gesteckte,
in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 von einem Pionierzug der Radolfzeller SS-VT gesprengte Synagoge von Konstanz, Sigismundstr. 19. Fotografie vom 11. November 1938 von J.E. Rotzinger. Stadtarchiv Konstanz

Zur insgesamt undurchsichtigen Befehlslage zwischen Allgemeiner SS (Konstanz, Stuttgart) und der Radolfzeller SS-Verfügungstruppe bei den örtlichen Maßnahmen ist anzumerken: Trotz umfangreicher Ermittlungen war 1962/63 vor dem Landgericht Konstanz nicht mehr mit Sicherheit zu klären, wer den Befehl zur Inbrandsetzung der Synagoge 1938 erteilt hatte. Mit seiner Anklage konfrontiert, sagte der ehemalige SS-Oberführer Walter Stein aus, dass die SS-Verfügungstruppe aus Radolfzell die Aktionen in Konstanz, Gailingen, Randegg und Wangen durchgeführt habe; er selbst, Stein, wollte sich daran erinnern, in Konstanz, Randegg und Gailingen, nicht aber in Wangen zumindest vor Ort gewesen zu sein. Seine Aufgabe sei aber lediglich gewesen, "persönliche Ausschreitungen zu verhindern" (!). Zu Konstanz führte er zunächst aus aus: 'Wie angegeben, hatte ihn [Stein] SS-Sturmbannführer Koeppen telefonisch verständigt, dass er die Synagoge in Konstanz und auch einige auswärtige Synagogen zerstören werde. Er habe sich darauf in Uniform zur Konstanzer Synagoge begeben. Dort habe er den SS-Sturmbannführer Koeppen angetroffen, der mit einer halben Kompanie seiner Leute gekommen war. Auf seine Frage, von wem der Auftrag gekommen sei, wurde ihm entgegnet, dass der Auftrag von SS-Gruppenführer Kurt Kaul vom SS-Oberabschnitt 'Südwest' in Stuttgart gekommen sei, der auch sein Vorgesetzter gewesen sei. " (StAF 178/2, Nr. 42, S. 325,493 und 601)

In seiner letzten Vernehmung am 23. Januar 1963 gab Stein schließlich folgende Version zu Protokoll: Er sei von seinem Vorgesetzten, SS-Gruppenführer Kurt_Kaul (1890-1944), aus Stuttgart angerufen worden. Kaul habe ihn gefragt, ob er denn nicht wüsste, was sich im Reich abspiele; am Bodensee schlafe man wohl. Von Kaul unterrichtet, dass überall die Synagogen zerstört werden, sei er, Stein, angewiesen worden, den Kommandeur der SS-Verfügungstruppe in Radolfzell anzurufen. Koeppen hätte von Kaul bereits den Befehl zur Zerstörung der Konstanzer Synagoge erhalten. Während des Telefonats mit Koeppen sei dieser über den Zerstörungsbefehl aufgebracht gewesen und erklärte, er werde bei seiner vorgesetzten Dienststelle um Klärung der Einsatzfrage ersuchen. Etwa eine Stunde später habe ihm Koeppen in einem neuerlichen Telefonat mitgeteilt, dass die Kommandostelle der SS-Verfügungstruppe in Berlin nun den Einsatzbefehl erteilt hätte. Der später an der Synagoge erschienene Pionierzug der SS-VT aus Radolfzell sei von Koeppen, der erst nach Steins Ankunft an der schon brennenden Synagoge mit seinem PKW angekommen war, herbeigerufen worden: "Ich selbst war es jedenfalls nicht. Ich wusste vorher überhaupt nicht, dass bei der SS 'Germania' ein solcher Sprengtrupp vorhanden war." (vgl. StAF 178/2, Nr. 42, S. 673-681)  

          

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Das SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatz-Bataillon I  in Radolfzell (16.12.1939-1.12.1940)

Im Zusammenhang mit der Aufstellung der SS-Division 'Totenkopf' ab 1.10.1939 wurde gemäß Erlass des OHK vom 27.10.1939 durch den Reichsführer SS als erste Ersatzeinheit für die Division das SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatzbataillon I in Breslau aufgestellt. Anfang Dezember 1939 wurde das Bataillon geteilt. Jeweils die Hälfte der Führer, Unterführer und Mannschaften wurde zur Aufstellung des SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatzbataillons II nach Lichtenburg  bei Prettin versetzt, später nach Weimar-Buchenwald. Anschließend verlegte man das Restbataillon am 16. Dezember 1939 in die seit August von der SS-Verfügungstruppe verlassene Kaserne nach Radolfzell, wo es mit Reservisten und Kriegsfreiwilligen ergänzt und neu gegliedert wurde: maximale Truppenstärke in Radolfzell am 9. April 1940: 1527 Mann (17 Führer, 146 Unterführer, 1187 Mannschaften); Gliederung: Stab, 3 Schützenkompanien, 1 MG-Kompanie; zusätzlich 1 Kradschützen-Ersatzkompanie (4 Führer, 24 Unterführer, 149 Mannschaften). Unterstellt war das Bataillon dem Inspekteur der Ersatzeinheiten der 'SS-Division Totenkopf' bzw. ab 16.08.1940 dem SS-Führungshauptamt, Berlin. [12]  

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Die verantwortlichen Kommandeure in Radolfzell 1939-1940 waren:

12.1939-02.1940: SS-Obersturmbannführer Ernst BUCHMANN (1897-?), NSDAP-Nr 119 969, SS-Nr.: 2 756; SS-OStubaf.: 13. Sep. 1936; Fhr., I./59.SS-Standarte (Dessau): (1. Okt. 1944); Goldenes Parteiabzeichen,Totenkopfring der SS.

02.1940-10.1940: SS-Obersturmbannführer Heinrich SCHEINGRABER (1900-?), NSDAP-Nr: 571915, SS-Nr: < 10000; Usf 3.8.33, Osf 3.5.34, Hsf 20.4.35, Sbf 9.11.37, Obsbf 9.11.41; Stab SS Abschnitt XI (1938), Adjutant Konzentrationslager Dachau (1933-34), SS-Totenkopfstandarte 'Oberbayern', KL Dachau (1934-1937),  Bataillons-Kdr. (1937-1938), Btl. Kdr. in SS-Totenkopfstandarte 10 (1940), Btl. Kdr. SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatz Btl. I  in Radolfzell (Februar- Oktober 1940), Kdr. II. Bataillon SS-Pz.Gren.Rgt. 10 "Westland" (1941) / 5. SS Div. "Wiking" (1941-1944), IX SS Korps und 27. SS-Freiw. Gr. Div. "Langemarck" (1944-45). Unter Scheingrabers Kommando erfolgten die örtlichen Deportationsmaßnahmen im Rahmen der 'Wagner-Bürckel-Aktion', am 21./22. Oktober 1940). 

1.11.1940-10.1.1941: SS-Standartenführer Heinrich (Heimo) HIERTHES (1897-1951), NSDAP-Nr.: 2945974, SS-Nr. 282 042;  SS-Stubaf. 1937, SS-OStubaf. 20.4.1939, SS-Standartenführer  21 Jun. 1941; V./SS-Totenkopfstandarte "Brandenburg" (1937), Kdr. VII./SS-Totenkopfstandarte "Thüringen", die im Konzentrationslager Buchenwald  als Wachmannschaft eingesetzt war (August 1937-Sommer 1939), Kdr. SS-Totenkopf-Aufklärungs-Abteilung 3 ('SS-Divion Totenkopf') (September 1939), Kdr. II./SS-Totenkopfstandarte 7. (September 1940  - November 1940). Kdr. SS-Totenkopf-Infanterie-Ersatz-Bataillon I in Radolfzell/Stralsund (November 1940 - 10. Januar 1941). Unter Hierthes Kommando erfolgte die Verlegung des Bataillons von Radolfzell nach Stralsund. Hierthes starb in russischer Kriegsgefangenschaft.  

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Das Totenkopf-Bataillon wurde als zuständiger Ersatztruppenteil für das SS-Totenkopf-Infanterie-Regiment 1 bestimmt. Ab März 1940 übernahm es zusätzlich die Ersatzgestellung für die Nachschubdienste der SS-Totenkopf-Division. Am 29. Mai 1940 wurde in Radolfzell der erste Mannschaftsverband mit 330 Mann zur Frontsammelstelle für die im Fronteinsatz in Frankreich stehende Totenkopf-Division "abgestellt"; zwischen dem 10. Juni und 22. Juli 1940 wurden nochmals 687 Mannschaften an die Feldtruppen "abgegeben". Am 03. August 1940 setzten sich überdies 500 Ersatzmannschaften des Bataillons zur 'SS-Division Totenkopf' in den Raum Avallon (Frankreich) in Marsch, wo die Division unter Kommandeur Theodor Eicke seit dem Waffenstillstand am 22. Juni 1940 als Besatzungstruppe stationiert war.



Polizeikräfte und Radolfzeller SS bei der Deportation der Gailinger Juden. 22.10.1940. Yad Vashem Photoarchiv.

"Wagner-Bürckel-Aktion" (22. Oktober 1940)

Die maßgebliche, personelle wie organisatorische Verantwortung für die de-facto Auslöschung jüdischen Lebens, gemeinsamer jüdisch-christlicher Kultur auf der Höri und im Hegau, lag 1940 bei der in Radolfzell stationierten SS-Totenkopf-Ersatz-Einheit. Unterstützt von Konstanzer Gestapo und lokaler Ordnungspolizei, führte das Radolfzeller Bataillion am 22. Oktober 1940 die regionalen Deportationsmaßnahmen gegen die jüdischen Landgemeinden auf der Höri und im Hegau aus. Im Rahmen der sogenannten „Wagner-Bürckel-Aktion“ wurden insgesamt 6504 badische und saarpfälzische Juden in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert, darunter die noch verbliebenen 206 jüdischen Einwohner von Wangen, Gailingen und Randegg. Viele der Internierten starben bereits bald nach ihrer Ankunft im Lager oder wurden von dort ab August 1942 nach Auschwitz und in andere deutsche Vernichtungslager in Polen deportiert und dort ermordet

Berty Friesländer-Bloch über die "Wagner-Bürckel-Aktion", die sie in Gailingen erlebte:

„Wir wurden auf das Rathaus geführt (das ganze Dorf stand bereits voller Camions und Schaulustiger) und die Befehle der SS- Männer, die größtenteils aus Radolfzell angerückt waren, waren weitherum zu hören. Auf der Rathaustreppe stand der amtierende Bürgermeister, angetan mit einem khakifarbenen Umhang à la Mussolini und sprach zu meinem Mann: „So Friesländer, jetzt geht’s ins gelobte Land“.

[…] Nachdem wir nun in einem im Parterre liegenden Schulzimmer registriert und mit Anhängenummern versehen waren, führte man uns zu den vor dem Rathaus wartenden Camions, wo wir dichtgedrängt zur Abfahrt beisammen kauerten. Auf der Fahrt nach Randegg flog noch mancher Stein an unsere käfigartige Behausung.”44

(Vgl.: Eckhardt Friedrich, Dagmar Schmieder-Friedrich (Hg.): Die Gailinger Juden. Materialien zur Geschichteder jüdischen Gemeinde Gailingen aus ihrer Blütezeit und den Jahren der gewaltsamen Auflösung, Konstanz 1981, S.111-121, S.117)


Die Waffen-SS-Unterführerschule Radolfzell (USR) (15.2.1941-2.5.1945)

Neben den 'Junkerschulen' zur SS-Führer-Ausbildung richtete die Waffen-SS im Verlauf des Krieges fünf Unterführerschulen ein: die ersten beiden gab es in Lauenburg (Pommern) (ab November 1940) und in Radolfzell (ab Februar 1941), später wurden in den okkupierten Gebieten drei weitere Unterführerschulen gebildet: in Arnhem (Arnheim), in Lubliniec (Lublinitz) und in Owinska (Posen-Treskau); letztere verlegte man im Herbst 1943 ins slowenische Ljubljana (Laibach). Vorbild dieser Schulen war die aufgelöste Unterführerschule Dachau.

Über 'Unterführer-und Führer-Laufbahn', Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Waffen-SS "informierte" eine Propagandabroschüre des SS-Führungshauptamtes aus dem Jahr 1943 wie folgt:

"Der SS-Unterführer *) in seinen verschiedenen Rangstufen ist der treue Gehilfe des SS-Führers. Als SS-Unterscharführer ist er mit den Männern seiner Gruppe am unmittelbarsten verbunden. Er steht seinen Mann, auf ihn ist Verlaß. Das Vertrauen, das ihm von oben und unten entgegengebracht wird, beruht auf seiner erprobten Tapferkeit, seiner Gerechtigkeit und seinem militärischen Können. Er ist die Verkörperung der seelischen Widerstandskraft der Waffen-SS. Entschlossenheit, Zuversicht und Ruhe kennzeichnen ihn im Kampf. (...). So ist das Unterführerkorps der Waffen-SS in seiner nationalsozialistischen Haltung tief mit der Idee Adolf Hitlers verwurzelt, aus der heraus die großen Siege erwachsen, die mit dem Namen der Waffen-SS für alle Zeiten verknüpft sind. Maßgebend für die spätere Beförderung vom SS-Unterführer zum SS-Führer ist besondere Bewährung des Unterführers und Führerveranlagung.

[*Zu den Unterführer-Dienstgraden gehörten: SS-Unterscharführer, SS-Scharführer, SS-Oberscharführer, SS-Hauptscharführer, SS-Sturmscharführer, SS-Stabsscharführer.] 

U n t e r f ü h r e r l a u f b a h n
 
1. M i l i t ä r i s c h e   A u s b i l d u n g .

Die militärische Ausbildung gliedert sich in 4 Hauptabschnitte:

a) Grundausbildung bei der Ersatztruppe;

b) Verwendung bei der Feldtruppe als Mannschaftsdienstgrad;

c) Unterführerlehrgang

d) Verwendung als Unterführer bei der Feldtruppe (Gruppen-, Geschützführer usw.).

2. F a c h a u s b i l d u n g .

Die Fachausbildung schließt sich an die militärische Ausbildung an. Zu ihr wird nur zugelassen, wer mindestens SS-Unterscharführer ist, die Qualifikation zum Gruppen-, Geschütz- usw. -führer erhalten und sich vor dem Feinde bewährt hat.

Ausnahmen in einzelnen Laufbahnbestimmungen sind nur vorübergehend und truppentechnisch bedingt.

L a u f b a h n   U 1 :  U n t e r f ü h r e r   i m   T r u p p e n d i e n s t

a) Aufstiegsmöglichkeit bis zum SS-Hauptscharführer.

b) Es kann befördert werden:

Bei Fronteinsatz:

nach dem 6. Ausbildungsmonat zum SS-Sturmmann,
nach bestandener Abschlußprüfung des Unterführeranwärter-Lehrganges bzw. des Lehrganges an der Waffenschule zum SS-Unterscharführer,
nach einem Jahr Dienst als SS-Unterscharführer, davon mindestens 2 Monate bei der Feldtruppe, zum SS-Oberscharführer, nach 3 Monaten Dienst als SS-Oberscharführer zum SS-Hauptscharführer."

Quelle: Reichsführer SS / SS-Hauptamt (Hg.): "Dich ruft die SS!", Berlin 1943

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Angehörige einer (von vier) Ausbildungs-Kompanien der Waffen-SS-Unterführerschule Radolfzell,
2. Unterführerlehrgang (22.11.1941-28.3.1942).
Privatfotografie, Urheber unbekannt.



Das so genannte 'Führerheim' der Heinrich-Koeppen-Kaserne.
Casino für Kommandantur und SS-Offiziere.
SS-Feldpostkarte. Fotografie von Friedrich Franz Bauer.

Zusätzlich zu den drei Unterführer-Lehrgängen pro Jahr gab es an der USR für Unterführer-Dienstgrade viermonatige 'Kriegs-Reserve-Führeranwärter'-Lehrgänge (RFA), deren erfolgreicher Abschluss unter anderem Voraussetzung zur Beförderung zum SS-Untersturmführer war. Mindestens zwei dieser Führer-Lehrgänge sind für die Jahre 1941 und 1942 in der Heinrich-Koeppen-Kaserne belegt.

Zahlreiche, darunter hochrangige und für Kriegsverbrechen verantwortliche Mitglieder der Waffen-SS waren in der Radolfzeller Unterführerschule zwischen 1941 und 1945 als wechselnde Ausbilder von Unterführeranwärtern tätig, die jeweils über mindestens drei Monate militärisch und im Sinne des Nationalsozialismus 'weltanschaulich' geschult wurden und schließlich, wie ihre Ausbilder, an den verschiedenen Fronten des Krieges weiter zum Einsatz kamen. Von Seiten der USR-Ausbilder sind unter anderem zu eruieren:

-SS-Hauptsturmführer Werner Brückner (Kompanieführer 2. Kompanie 1941; gest. 14.8.1942, Stalino, genannt unter den 'gefallenen Söhnen der Stadt' am 'Kriegerdenkmal' Radolfzell)

-SS-Obersturmführer Arthur Burzlaff (1915-1944) (Kompanieführer der 3. Kompanie, 27.3.1943 (siehe Schulbefehl); als Hauptsturmführer 1944 Kommandeur des “Alarm”-Bataillons III der SS-Kampfgruppe I (SS-Panzergrenadier Brigade 49) unter Kommandeur Markus Faulhaber, siehe unten)

-SS-Haupsturmführer Helmut Engelsmann (1917-1944) (Kompanieführer der 1 (oder 2.) Kompanie, Lehrgang 9.2.1944-6.6.1944; danach unter Burzlaff nach Dänemark und Frankreich verlegt, Kompanieführer der 11. Kompanie der III. SS-Kampfgruppe 1 (SS-Panzergrenadier Brigade 49) in Frankreich.

-SS-Sturmbannführer Dr. Kurt Groß (1912-?) (siehe unten)

-SS-Hauptsturmführer (Herbert) Habel (1915-2000) (Kompaniechef der 2. Kompanie, Oktober 1944; davor unter Burzlaff Kompanieführer der 12. Kompanie der III. SS Panzergrenadier Brigade 49 in Frankreich; nach dem Krieg Flucht unter falschem Namen (Kurt Repa) nach Argentinien; dort protegiert von Juan_Perón; nach eigenem Bekunden rege Kontakte zu Adolf_Eichmann. In Leserbriefen und in einem Pressegespräch mit der patagonischen Tageszeitung LaMañana del Sur leugnete beziehungsweise verharmloste er bis in die jüngste Vergangenheit den Holocaust (Zur Causa Habel vgl.: Argentinisches Tageblatt, 110. Jahrg., Nr. 31.207, vom 24. Juli 1999: Holocaust-Leugner sucht Öffentlichkeit. 85jähriger SS-Offizier bemüht Perón und Eichmann für sein Weltbild. Digitalisat: hier

Signatur von SS-Hauptsturmführer und Kompaniechef Herbert Habel,  
Soldbuch eines USR-Angehörigen, 
Radolfzell, 20. Oktober 1944.  


-SS-Obersturmführer Herbert Hänel (Kommandantur der USR ab Juli 1942, zuvor Adjutant des damaligen Lagerkommandanten Karl_Otto_Koch im KZ Majdanek)

-SS-Obersturmbannführer Walter Harzer (1912-1982), Taktik-Ausbilder an der USR, Februar-Juni 1941, "Sieger von Arnheim" 1944, RK-Träger 1944)

-SS-Obersturmführer Felix Leithner (siehe unten)

-SS-Hauptsturmführer Max Paustian (1915-?) (ab Januar 1943 Kompanieführer an der USR, 6. Unterführerlehrgang; an der USR bis Oktober 1943; danach UFS Posen-Treskau. Ab Januar 1944 Kompaniechef einer Begleitkompanie der 16. SS-Panzergrenadier-Division. In dieser Funktion beteiligt an den Massakern an der Zivilbevölkerung in Valla und Bardine (17.-19. 8. 1944) und Marzabotto (29.9.-1.10.1944, Italien.

- SS-Obersturmführer Hans Reinthaler (1913-?) SS-Nr. 257462. SS-Obersturmführer (20.4.44), SS-Hauptsturmführer und Kompanieführer der 1./USR, Februar 1945.


Die verantwortlichen Kommandeure der USR:

Erster USR-Kommandeur war, im Rang eines SS-Obersturmbannführers (20.4.1942), der spätere SS-Oberführer Thomas Müller (1902-?), Mitglied der NSDAP seit 1933, Mitgliedsnr. 3 447 996, SS-Nr. 109 770, Kommandeur I./ SS-Standarte 'Der Führer' (1.11.1939- Februar1941), Kdr. SS-Unterführerschule Radolfzell 15.2.1941-Februar 1943, Kdr. SS-Panzer Grenadier Regiment 2. 9. Panzer Grenadier Division Hohenstaufen (20.2.1943-10.7.1944), SS-Standartenführer (21.06.1943), Kdr. 9. SS-Panzer Division Hohenstaufen (28.6.1944-10.7.1944), SS-Führerreserve (10.7.1944), SS-Divisionsführer Lehrgang (14.7.1944-23.8.1944), SS-Oberführer, Kdr. 17. SS- Panzer Grenadier Division Götz von Berlichingen (30.9.1944-), Kdr. Aufstellungsstab und Kdr. der 25. SS-Freiwilligen Grenadier Division Hunyadi (Oktober 1944-27.11.1944), Kdr. 27. SS- Freiwilligen Grenadier Division Langemarck 27.11.1944-8.5.1945.

Nachfolger Müllers als Kommandant der USR war ab Februar 1943 Wilhelm (Willi) Braun (siehe unten).

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Die Ausbildungseinheit, die im Februar 1941 mit der Unteroffizierausbildung begann, bestand zunächst aus vier  (später aus sechs) Kompanien:

2 Panzergrenadier-Kompanien (1. / 2. Kompanie),

1 Kompanie: schwere Infanteriewaffen (3. Kompanie)

1 Kompanie: Panzerabwehr- und Infanteriegeschütze (schwere Kompanie) (4. Kompanie).

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Ein ehemaliger SS-Unterführer-Anwärter erinnerte sich rund dreißig Jahre später ebenso knapp wie zynisch:

„Der Lehrgangsbetrieb ging (Nov. 41 - März 1942) friedensmäßig vor sich, jedoch überwiegend Geländedienst, also kriegsmäßige Ausbildung. Weiter Unterricht in allen erforderlichen Sparten , Exerzieren u. Scharfschießen. Die Ausbildung fand im Gelände hinter der Schule und auf dem Schießstand statt. Besondere Ereignisse gab es nicht, lediglich mußten wir beim Ergreifen einiger ausgebrochener Häftlinge, die damals in der Reithalle untergebracht waren, mithelfen. (...). Die Häftlinge waren zum Bau eines neuen Schießstandes eingesetzt u. (es) ging dort auch ganz gemütlich zu. (sic!)“ (Eibe Seebeck, in einem Brief an den Dokumentaristen der HIAG, Wolfgang Vopersal, vom 25.12.1971; N756/330 b, Militärarchiv Freiburg)

Detaillierter geben sich die Erinnerungen eines 'Panzergrenadiers' (Jahrgang 1925) des 12. USR-Lehrgangs zwischen 9. Februar und 6. Juni 1944: "Wir wurden alle an folgenden Waffen ausgebildet: Pistole 08, Pi 38, Karabiner 98K, Schnellfeuergewehr 41, MPi 44, Sturmgewehr 43, Maschinengewehr 42, Granatwerfer 34, Kaliber 8 cm, kleine und große Panzerfaust, Panzerschreck oder Ofenrohr, Flammenwerfer. Wir haben mit allen genannten Waffen den scharfen Schuss geübt. Zudem erlernten wir die Anwendung der Stiel- oder Eierhandgranate, das Scharfmachen und Verlegen von Minen, Exerzieren, Nahkampf, taktisches Verhalten beim Angriff in der Gruppe, dem Zug und der Kompanie. (...). Wir hatten manchmal Unterricht mit der ganzen Kompanie. Ein Sturmbannführer hielt dann Vorträge von zwei bis drei Stunden über die Themen 'Die SS als Orden' oder 'Die SS-Lebensgemeinschaft und die Blutfrage' usw. (...). " (Walter Scheinpflug: Über Leichen zum Sieg. Erlebnisbericht. Niebüll, Videel 2000; hier das Kapitel: Als Absolvent der Unterführerschule in Radolfzell, S. 19-41)






Übung der USR, Kurzbahn des SS-Schießstands im Gewann Altbohl, Winter 1942/43. Im Hintergrund zu erkennen: das vor ihrem Abzug von der SS im April 1945 gesprengte Munitions- und Wachhaus. 

Fotografien aus dem Album des SS-Unterscharführers Werner Maybauer. Privatbesitz d. Vfs.

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In der Beurteilung am Ende des letzten Lehrgangs attestierte die USR einem ihrer Unterführer-Aspiranten, einem achtzehnjährigen SS-Obergrenadier mit Fronterfahrung bei den Feldtruppen und Verwundetenabzeichen, bei sonst durchschnittlichen Leistungen unzureichende Gruppenführerqualitäten, genehmigte ihm aber noch am 22. Februar 1945 (!) die Wiederholung der Unterführerprüfung, denn er zeige eine "gute Dienst- und Pflichtauffassung", sei "körperlich widerstandsfähig und ausdauernd" und lasse in puncto "Weltanschauung" nichts zu wünschen übrig.



"...ein schwer zu durchschauender, noch in der Entwicklung begriffener Charakter..."




"Weltanschauung: vom Gedankengut des Nationalsozialismus durchdrungen."

Die Leistungen des zur Wiederholung zugelassenen Unterführeranwärters; UFS Radolfzell, 22.2.1945; verso gezeichnet vom Kompanieführer (Hans) Reinthaler und gezeichnet und gestempelt -Einverstanden!- vom stellvertretenden USR-Kommandeur, SS-Sturmbannführer Dr. [Kurt] Groß (siehe weiter unten). (Dokument in Privatbesitz).

     

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Deckname "Lottermann"

Zwischen November 1942 und Februar 1943 war der vormalige Oberbefehlshaber der französischen Armee und Verteidigungsminister des Kollaborationsregimes von Vichy, General Maxime Weygand, Deckname 'Lottermann', in der Unterführerschule interniert.

Siehe hierzu: Volker Koop: In Hitlers Hand. Sonder- und Ehrenhäftlinge der SS, Wien, Köln, Weimar 2010, hier das Kapitel: Die Verfolgung der französischen Elite, zu Weygand hier S. 122-129:

„Der ‚Ehrenhäftling’ Weygand wurde zunächst in die SS-Unterführerschule Radolfzell gebracht. Streng bewacht, bezog er im zusätzlich umzäunten Kommandeursgebäude eine Wohnung (43). Er erhielt den Decknamen ‚Lottermann’, sein Aufenthaltsort sollte geheim bleiben und war nur den Wachmannschaften bekannt. Da man von einem längeren Aufenthalt in Radolfzell ausging, wurden zwei Gruppen zu je neun SS-Unterführern mit drei SS-Hauptsturmführern als Wachhabende zu seiner Bewachung eingesetzt. Ein SS-Unterscharführer erfüllte die Aufgaben einer Ordonnanz.

Sofort nach seinem Eintreffen in Radolfzell protestierte Weygand beim Kommandeur der Schule, SS-Obersturmbannführer (Thomas) Müller, gegen seine Gefangennahme.

(…)

Meistens hielt sich Weygand in seiner Wohnung auf. Wenn er an die frische Luft wollte, wurde er im geschlossenen Wagen in abgelegene Wald- und Seengebiete gefahren.

(…)

[Thomas Müller] regte bei Himmler die Verlegung von Weygand an und meinte, „dass für einen Übergangsaufenthalt von kurzer Dauer die Schule sowohl unterkunfts- wie bewachungsmäßig geeignet ist; jedoch für längere Zeit für einen General (…) untragbar.“ (50)

(…)

In gewisser Weise schien Himmler Weygand zu respektieren. Am 14. November 1942 erhielt Obergruppenführer Hans Jüttner im RSHA den Befehl, ihm täglich „über das Befinden unseres Gastes in Radolfzell“ zu berichten. (52)

(…)

Unter dem Betreff ‚Lottermann’ erhielt Himmlers Adjutant Grothmann am 14. Dezember 1942 einen Bericht über den Gesundheitszustand des Gefangenen (56). Beigefügt war eine Erklärung Weygands, in der er sich lobend über die medizinische Betreuung äußerte, aber anmerkte:

„Was meinen Gesundheitszustand sehr beeinträchtigt, ist vor allem die Tatsache, dass man mich bis heute im Unklaren über den Grund und die Dauer des Aufenthaltes lässt. Der Krieg kann noch lange dauern und ich würde somit hier mein Leben beenden. Im übrigen fehlt mir nur eines: meine Freiheit. Abgesehen davon fühle ich mich sehr wohl und habe kein Interesse an einem Wechsel meines Aufenthaltsortes, da ich hier in überaus zuvorkommender Weise behandelt werde.“ (57)

Diese Bemerkung weckte den Argwohn seiner Bewacher, wie aus einem Zusatz des Schulkommandeurs [Thomas Müller] hervorging:

„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Lottermann unter allen Umständen versucht, gerade hier in dieser Gegend zu bleiben. Ich könnte mir vielleicht denken, dass er gerade infolge der außerordentlichen Nähe der Schweizer Grenze sich vielleicht von dort aus etwas erhofft. Es ist eigenartig, dass er bei seinen Spaziergängen immer wieder versucht, die genauen Grenzen nach der Schweiz zu erfahren; dass er sich äußerst lebhaft für alle Wegweiser interessiert, wie ich selbst beobachten konnte. Seit Tagen habe ich befohlen, dass bei seinen Spaziergängen außer 2 Führern noch 2 Unterführer mit M.P. in Sichtweite folgen. Zudem habe ich befohlen, dass durch die hiesige Ortspolizeibehörde eine genaue und scharfe Fremdenkontrolle durchgeführt wird, dass bei der Vorlage der Hotelannahmescheine mir über Verdächtige und Schweier Staatsangehörige Meldung gemacht wird.“ (Koop, S. 127f.)

Auch Himmler gelangte zu der Überzeugung, dass für Weygand ein anderer Aufenthaltsort gefunden werden müsse.

(…)

Noch am 28. Februar 1943 verlangte Himmler von [Walter] Schellenberg, die Sicherheitsmaßnahmen in Radolfzell zu verschärfen. (61) Die wachhabenden SS-Unterführer müssten eindringlich darauf aufmerksam gemacht werden, was an der Bewachung Lottermanns hängt.

Bald darauf wurde Weygand – nunmehr mit seiner Frau – vorübergehend in Schloss Garlitz, einem Außenlager des KZ Neuengamme, untergebracht und schließlich nach Schloss Itter [Tirol] überführt.“ (zit. Koop, S. 121-129) 

SS-Kampfgruppe 1 / SS Panzergrenadier Brigade 49

Zur Verstärkung der Abwehr der zu erwartenden Invasion der alliierten Streitkräfte in der Normandie wurde bereits im Frühjahr 1944 unter anderem aus USR-Unterführeranwärtern des 9., 10. und 12. Unterführerlehrgangs unter Kommando von SS-Hauptsturmführer Arthur Burzlaff (siehe unten) das dritte Bataillon (von 3) der sogenannten 'SS-Kampfgruppe 1' (am 18. Juni 1944 umbenannt in 'SS Panzergrenadier Brigade 49') rekrutiert. Am 6. Juni 1944 wurde es zunächst auf den Truppenübungsplatz Königsbrück bei Dresden verlegt, von dort nach Dänemark und schließlich am 12./13. August 1944 in die Kämpfe nach Frankreich abkommandiert. Brigade-Kommandeur war SS-Sturmbannführer Markus_Faulhaber (1914-1945), der nach Ende des Krieges und seinem Unfalltod 1945 in Tirol in Radolfzell bestattet wurde. Stärke des Radolfzeller Btls. unter Burzlaff am 10. Juni 1944: 14 Offiziere, 120 Unterführer-Lehrgangsteilnehmer, 680 Mannschaften. [13]

Die "Operation Habicht" und das SS-Regiment Radolfzell 

Aus der USR wurden außerdem im November 1944 das 'SS-Regiment Radolfzell' mit 6 Kompanien in 2 Bataillonen, verstärkt um 200 Mann HJ.-Lehrgang für Offiziersbewerber und 500 Dienstgrade der Luftwaffe mit drei Tagen Umschulung, unter Kommandeur Obersturmbannführer Willi Braun* aufgestellt, sowie diverse „Kampfgruppen“ rekrutiert, die noch in den letzten Kriegsmonaten im Gebiet Oberrhein/Colmar und Bodensee operierten. Die „Kampfgruppen“ (auch "Regimenter") der USR sind nach ihren jeweiligen, wechselnden Kommandeuren mit verschiedenen Kommandobezeichnungen dokumentiert (Hauptbezeichnung: 'Regiment Braun'; 'Kampfgruppe [Felix] Leithner'**, 'Kampfgruppe (Regiment) [Karl] Sattler'***, 'Kampfgruppe [Kurt] Groß'**** et al. ) und führten, eingebunden in die Wehrmacht, ab Mitte Dezember 1944 bis noch Anfang Februar 1945 letzte, verlustreiche Kämpfe gegen französische und amerikanische Streitkräfte um den Brückenkopf Elsaß, vor allem bei Kaysersberg, Sigolsheim und Colmar ("Operation Habicht") (vgl.: Hugel, André et al.: Wir waren Feinde. Elsässer, Deutsche, Amerikaner erinnern an die Kämpfe um die "Poche de Colmar" im Dezember 1944. Herbolzheim, Centaurus Verlag 2006). Die restlichen Teile der Unterführerschule standen, sofern sie nach Radolfzell zurückkehrten, zuletzt unter dem Oberkommando der die Kaserne übernommenen Wehrmacht, des AOK 24 unter General Hans Schmidt. Der Generalstab des AOK 24 lag, im Spätherbst 1944 von Bad Dürrheim kommend, bis 20. April 1945  in Engen und wurde danach in die Radolfzeller SS-Kaserne verlegt. Abwehroffizier (I c) des Stabes war der 1965/66 wegen Mordes durch Erhängen des Singener Bürgermeister-Stellvertreters Karl Bäder (1877-1945) am 21. April 1945 angeklagte SS-Obersturmbannführer Hans Wadel (1914-?). Das RSHA hatte ihn im November 1944 zusammen mit seinem Ordonnanzoffizier, SS-Sturmbannführer Walter Neum (geb. 1902), 1941-1944 Gebietskommissar im litauischen Panevėžys, dieser Wehrmachtseinheit zugeteilt; vgl. hierzu: StAF 178/2, Nr. 62/63. Auf dem Areal der Kaserne kam es im März und April 1945 zu standrechtlichen Exekutionen wegen "Fahnenflucht". Jeweils sechs Angehörige der USR vollzogen nachweislich fünf Erschießungen von SS-Angehörigen an einer Exekutionswand auf dem Kasernenhof (vgl. hierzu: Hans Köhler: Die SS-Buben von Radolfzell - ein Erlebnisbericht, in: Hegau, Jahrbuch 63/2006). Die SS-Kampfgruppen sprengten ein Munitionsdepot am Schießstand und setzten sich schließlich wie auch die Wehrmachtseinheiten AOK 24 nach verschiedenen weiteren Einsätzen im Radolfzeller Umland (Engen, Stockach, Wahlwies) in Richtung auf Bregenz, Vorarlberg und Tirol ab. Dabei wurden sämtliche Personal- und Wehrunterlagen der USR bei der Schiffspassage von Konstanz-Egg nach Lindau in Stahlkoffern im See versenkt. Am 3. Mai 1945 galt die Unterführerschule Radolfzell, deren Reste sich vor den nachrückenden fränzösischen Streitkräften von Lochau nach Dornbirn, Sulz und ins Klostertal abzusetzen versuchten, als aufgelöst.   

[*Wilhelm (Willi) BRAUN (1908-?): NSDAP-Nr.: 3 498 089, SS-Nr.: 214 175; SS-Obersturmbannführer (21.6.1943), SS-Standartenführer (30.1.1945). Kdr.  III./SS-Infanterie Regiment "Germania" der SS-Division "Wiking" (12. Juni 1940 -  Februar 1941), Kdr. III./SS-Totenkopfstandarte "K" (Kirkenes) (10.2.1941-Juli 1941), Kdr. III./SS-Inf.Rgt. 7 (6.7.41- Dezember 1941), Kdr. III./SS-Geb.Jg.Rgt. 7 (1942), mdFb USR (21.12.1942 – 12.2.1943), Kommandeur der USR (Februar 1943 - Mai 1945); Kommandeur des 'SS-Regiments Radolfzell' 1944/45, Einsatz am Brückenkopf Colmar, Mont de Sigolsheim, Mitte Dezember 1944 . Nach Verletzung durch Unfall wurde Braun als Kommandeur der Kampfgruppe von Kurt Groß abgelöst. Auszeichnungen: EK I + II, Ehrendegen des RF SS. Totenkopfring der SS , Ehrenblattspange. Braun setzte sich mit Resten der USR Ende April 1945 über Konstanz nach Lindau, schließlich nach Außerwald (Wald am Arlberg) ab. Braun gab dort am 2. Mai den Befehl zur Auflösung der USR.]

[**Felix LEITHNER (?-?): SS-Obersturmführer. Kompanieführer der 2. Kompanie der USR, 1944, Kompanieführer der 6./SS-Rgt. Radolfzell ('Kampfgruppe Leithner'), 1944/45, Einsatz am Brückenkopf Colmar. Auszeichnungen: EK I+ II, Ehrenblattspange (5.3.1945).]

[***Karl SATTLER (1913-1996): SS-Nr.: 46237; Junkerschule Braunschweig (1934-1939), SS-Sturmbannführer (1944), SS-Obersturmbannführer (1945), Kompanieführer I. SS-Infanterie-Reg. 9, 1940 (Norwegen), Kommandeur SS-Inf.Reg. 9, 1942 (Russland), 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“, 1944 (Russland, Frankreich), Kommandeur 'Kampfgruppe Sattler' ab November 1944, (Radolfzell/Colmar), eingebunden in 189. Infanterie-Division/Gen.Kdo. LXIV.A.K./AOK 19/Heeresgruppe Oberrhein (Brückenkopf Colmar). Auszeichnung: EK I + II, Ritterkreuz des EK: 16.1.1945.] 

[****Kurt GROSS (1912-?): SS-Sturmbannführer (Februar 1945), Kompanieführer und im Stab der USR 1943/44, Regimentsführer 'SS-Regiment Radolfzell' (Januar 1945) als Nachfolger von Willi Braun, Interims-Kommandeur der USR, Februar 1945. Am 20. Juli 1944 befahl Groß die Tötung zweier in Öhningen und Wangen gefangen genommener amerikanischer Piloten, Richard V.S. Newhouse und Howland J. Hamlin, die nach dem Luftangriff auf Friedrichshafen mit ihren Fallschirmen abgesprungen waren. Die Kriegsgefangenen wurden noch am selben Tag in einem Wald zwischen Gundholzen und Iznang von den USR-Offizieren Adolf Mattes und Rudolf Spletzer hinterrücks - im Jargon der Täter "auf der Flucht" - erschossen. In einem Dachauer Folge- und Fliegerprozess (US029, Beginn 26.9.1947, flyers case 12-43) wurden Groß, Mattes und Spletzer wegen dieser Morde zu lebenslanger Haft verurteilt. (Digitalisat des Prozess-Reviews siehe: hier).

Groß hielt als Kommandeur des 'SS-Regiments Radolfzell' noch am 15. April 1945 im Scheffelhof eine "fanatische" Durchhalte-Rede, die anzuhören alle Männer zwischen 14 und 70 Jahren verpflichtet waren: Radolfzell werde „bis zum letzten Mann“ verteidigt. Am 21.4.1945 erging ein letzter Einsatzbefehl des AOK 24 an die 'Kampfgruppe Groß': etwa 100 SS-Männer der USR rückten in den Raum Stockach ab. In Wahlwies wurde Groß selbst bei einer Schießerei mit dem eigenen ‚Volkssturm’ verwundet, der sich dort geweigert hatte, die Panzersperre zu schließen; dabei wurden vor und im Rathaus vier Wahlwieser erschossen. Die Ermittlungen zu diesen Morden führte 1950/51 die Staatsanwaltschaft Konstanz; das Verfahren wurde schließlich nach Auswertung der Zeugenaussagen wegen angeblicher Unmöglichkeit,  Groß  die Erschießungen eindeutig nachzuweisen, eingestellt. Die aufschlussreichen Untersuchungsakten und Vernehmunsprotokolle (u. a. von Kurt Groß) sind im Staatsarchiv Freiburg überliefert (StAF 178/2 Nr. 14). Die USR-Kampfgruppe Groß erschoss ferner am 23. April 1945 im bereits befreiten Stockach fünf Angehörige der französischen Streitkräfte und vollzog willkürlich die Hinrichtung von zwanzig Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen im dortigen Stadtgarten, nachdem die Franzosen die Stadt am 21.4. bereits erreicht, doch bis auf einen kleinen Trupp wieder verlassen hatten. Unter dem Eindruck allgemeiner Absetzungsbewegungen der deutschen Verbände setzte sich auch der verwundete Groß mit Resten der USR nach Dornbirn ab. In Klösterle am Arlberg wurde Groß von den französischen Militärbehörden schließlich festgenommen und später an die amerikanische Militärgerichtsbehörde übergeben.

Nach Prozess, Verurteilung und vorzeitiger Haftentlassung arbeitete der promovierte Jurist ab 1955 bis zur Pensionierung 1977 als Geschäftsführer der Kienbaum-Unternehmensberatung GmbH, Gummersbach, Ressort Personalberatung und Führungsnachwuchs in der Industrie.


Das Dachauer KZ-Außenlager (Außenkommando) Radolfzell (19.5.1941 - 16.1.1945)

Am 19. Mai 1941 kam mit der 'Überstellung' eines ersten Kontingents von deutschen, polnischen und tschechischen KZ-Häftlingen aus Dachau, deren 'Belegstärke' in der Folgezeit auf mindestens 113 Häftlinge erhöht wurde, auch Dachauer Wachpersonal in das in die SS-Kaserne integrierte KZ-Außenlager. Die Häftlinge wurden von der USR unter anderem bis Oktober 1942 zur Fertigstellung eines Großkaliber-Schießstandes im Gewann Altbohl eingesetzt.[14] Die überlieferte Dachauer Häftlingsliste "Aussenkommando: Radolfzell (SS-Unterführerschule) / Ausgerückt am 19. Mai 1941" , datiert vom 18. Mai 1942, nennt die Namen, Geburtsdaten, Häftlingsnummern, Haftarten und Blocknummern jener 113 Häftlinge, die zu diesem Zeitpunkt das Dachauer 'Außenkommando Radolfzell' bildeten: gelistet sind 46 sogenannte politische Schutzhäftlinge (42 (recte 41) Deutsche, 3 (recte 4) Polen und 1 Tscheche), 35 sogenannte "Asoziale" (abgekürzt: "AZR" - "Arbeitszwang Reichsbehörde") und 32 sogenannte "Kriminelle" (abgekürzt: "PSV" - "polizeiliche Sicherungsverwahrung") (ITS Digitales Archiv, 1.1.6.1, Dokument 9916436-39, ITS Bad Arolsen). Untergebracht waren die Häftlinge im zweigeteilten, langgestreckten und gepflasterten ehemaligen Pferdestall; zwölf Zellen zur Verbüßung von Sonder- und Strafarrest befanden sich in einem Kellergang hinter dem Wachbereitschaftsraum der USR. Der 'Kommandoführer', der die Befehlsgewalt über die Dachauer Häftlinge hatte, unterstand seinerseits der Kasernenkommandantur, mithin dem Kommandeur der SS-Unterführerschule. Ebenso übernahm die Kasernenwache der Unterführerschule die Aufsicht über die Häftlinge im Kasernenbereich. Laut USR-Schulbefehl war deren Wachdienst sinngemäß dem der Konzentrationslager durchzuführen, was de facto die Übernahme der Dachauer Lagerordnung wie auch der 'Dienstvorschriften' für das Wachpersonal im Außenlager Radolfzell bedeutete bzw. diese voraussetzte. Die von Theodor Eicke zuerst für das KZ Dachau vorgeschriebenen, dann für alle Konzentrationslager prototypischen Bestimmungen fanden Ausdruck in der am 1. Oktober 1933 erlassenen 'Disziplinar- und Strafandrohung für das Gefangenenlager (IMG, XXVI, PS-778) und in den 'Dienstvorschriften für die Begleitposten und die Gefangenenbewachung' (Nürnberger Dok. Ps-1216). Letztere regelten bis ins Einzelne das Verfahren des Häftlingsappells, des Abmarsches der Häftlingskolonnen zum Arbeitseinsatzort, die Pflichten der Torwachen und Begleitposten, sogar den Wortlaut einzelner Kommandos, den Abstand, den die Posten von den Häftlingen zu halten hatten, die Form der Ehrenbezeigung u.a. 

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SS-Unterführerschule / 3. Kompanie                                   Radolfzell, 27.3.43

Auszugsweise Abschrift aus Schulbefehl Nr. 22 v. 26.3.43.

Ziff.2.: Häftlingswache:

Der Wachdienst bei Häftlingen ist sinngemäß dem der Konzentrationslager durchzuführen. Es unterbleibt während des Wachdienstes jegliche Ehrenbezeigung, es sind von der zu bewachenden Abteilung 6 Schritte Abstand zu wahren und es ist jede nicht dienstliche Unterhaltung mit den Häftlingen verboten.

F.d.R.d.A.

[Arthur] Burzlaff / SS-Obersturmführer und Kp.Führer / [Stempel der] Waffen-SS-3. SS-Untf.-Schule Radolfzell

[Dokument in Privatbesitz]



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In den diesem Auszug zugrundeliegenden Dachauer "Dienstvorschriften" war zu lesen:

"Den Begleitposten obliegt lediglich die Bewachung der Gefangenen. Sie richten ihr Augenmerk auf das Verhalten derselben bei der Arbeit. Träge Gefangene sind zur Arbeit anzuhalten. (...) Ist ein Gefangener bei der Arbeit sichtlich nachlässig und faul, oder gibt er freche Antworten, dann stellt der Posten den Namen fest. Nach Dienstschluss erstattet er Meldung. Selbsthilfe bedeutet Mangel an Disziplin. (...) Der SS-Mann hat Stolz und Würde zu zeigen...Die Anrede 'Du' kommt einer Verbrüderung gleich. Erniedrigend ist es für einen Totenkopfträger, der sich von Bolschewiken und Bonzen zum Botenträger machen lässt... Dem SS-Begleitposten ist es verboten, außerdienstliche Gespräche mit den Gefangenen zu führen...

Auch die Dachauer Vorschriften zum sofortigen Gebrauch der Schusswaffe im Falle eines Anzeichens von Flucht oder Gefangenenmeuterei waren für das Außenlager Radolfzell maßgeblich. In den "Dienstvorschriften" hieß es dazu:

"Versucht ein Gefangener zu entfliehen, dann ist ohne Anruf auf ihn zu schießen. Der Posten, der in Ausübung seiner Pflicht einen Gefangenen erschossen hat, geht straffrei aus. Wird ein Posten von einem Gefangenen tätlich angegriffen, dann ist der Angriff nicht mit körperlicher Gewalt, sondern unter Anwendung der Schußwaffe zu brechen. (...) Schreckschüsse sind grundsätzlich untersagt." [15]




Der Pferdestall der SS-Kaserne.
Ab Mai 1941 waren in den ehemaligen Pferdekojen die KZ-Häftlinge untergebracht.
Privatfotografie um 1938. Urheber unbekannt. 




"erl-(edigt)" - Die Dachauer Häftlingsliste "Aussenkommando: Radolfzell (SS-Unterführerschule) /  
ausgerückt am 19. Mai 1941" vom 18. Mai 1942, Seite 1 (von 4). [1] Unterführerschule)“, 19.Mai 1942.

ITS Digitales Archiv, 1.1.6.1, Doc. 9916436 – 9916439.  ITS Bad Arolsen.


Bei Außeneinsätzen der Häftlinge zeichnete das Dachauer Wachpersonal, etwa 10-15 Angehörige des SS-Totenkopfsturmbanns, Dachau, für den Wachdienst verantwortlich. Erster Kommandoführer beim Bau des etwa drei Kilometer von der Kaserne entfernten SS-Schießstandes zwischen Mai 1941 und August 1942 war der später als Kriegsverbrecher im Dachau-Hauptprozess 1945 von den Amerikanern zum Tode verurteilte und hingerichtete SS-Hauptscharführer Josef Seuß, der in seinem bei Schuldspruch und Strafbemessung berücksichtigten Affidavit zugab, in Radolfzell „besonders hart (particularly hard)“ gegen Häftlinge vorgegangen zu sein und sie misshandelt zu haben. [16] Der Mitangeklagte, zu zehn Jahren Haft verurteilte SS-Scharführer Hugo Lausterer, Wachmann des Arbeitskommandos unter Seuß zwischen Februar und August 1942 und bis Oktober 1942 in Radolfzell, gab über seinen Vorgesetzten zu Protokoll: „SS-Hauptscharführer Seuß schlug die Gefangenen sehr oft während ihrer Zeit in Radolfzell. Er schlug sie mit seinen Händen, mit Stöcken und trat sie auch mit Füßen. Einmal sah ich, wie er einen kranken Häftling schlug, weil der Häftling zu krank für die Arbeit war. Ich sah Seuß auch, wie er Häftlinge von einem 30 bis 50 Meter hohen Damm hinunterstieß. Er tat dies, nachdem er sie geschlagen hatte“. [17]

Der Ruf als besonders grausamer Leiter des Dachauer Arrestgebäudes ("Bunker"), zuständig für die Strafmaßnahmen in Dachau, ging Seuß nach Radolfzell voraus. Der  'politische Vorbeugungs-' bzw. 'Schutzhäftling'  Leonhard Oesterle (1915-2009), am 19. Mai 1941 unter Seuß aus Dachau ins Außenlager Radolfzell verlegt und am 15. November 1943 von dort zusammen mit dem tschechischen Schutzhäftling Oldřich Sedláček (1919-1949) in die Schweiz geflohen (siehe unten), erinnerte sich noch Jahrzehnte später:

"(Josef Seuß), schon als Bunkerleiter in Dachau ein Schrecken der Häftlinge, blieb auch in Radolfzell ein gefürchteter Mann. Er war äußerst penibel und achtete pedantisch auf die Einhaltung der Lagerordnung. Er war ein ausgesprochen beamtenhafter Typ, der keine Unregelmäßigkeit duldete und Ordnung über alles stellte. Er lebte für die Einhaltung der Vorschriften. Sobald er abends der Kaserne den Rücken kehrte, atmeten nicht nur die Häftlinge auf, sondern auch die Wachsoldaten. (...) Er war ein grausamer Mensch – nicht weil er sadistisch war, sondern weil er keine Übertretungen der Lagergesetze duldete.“ [18]

Der überlebende Häftling Karl Täuber (1912-?) schilderte im Rahmen seiner gerichtlichen Zeugenaussage am 27. November 1954 wie er und vier weitere Häftlinge im Außenlager Radolfzell durch Kommandoführer Josef Seuß misshandelt wurden, nachdem sie einen weggeworfenen Zigarettenstummel geteilt hatten; Seuß hatte die Häftlinge dabei beobachtet und schlug zunächst mit Fäusten und einer Wurzel zu, bevor er Essensentzug verordnete. Die Häftlinge mussten zudem während der Mittagszeit mit 20 bis 25 Pfund schweren Steinen mindestens eine Stunde 'Strafstehen'. Seuß schickte schließlich die Strafmeldung von Radolfzell an das Stammlager Dachau. Etwa ein halbes Jahr nachdem die fünf Radolfzeller Häftlinge wegen verbotenen Rauchens von Seuß verprügelt worden waren, erhielten sie nach ihrer Rücküberstellung nach Dachau noch ihre offizielle Strafe: 25 Stockhiebe und 42 Tage Bunkerarrest. (Aussage Karl Täuber, 27.11.1954, Staatsarchiv München, Stanw 34/570/2; zit. nach Sabine Schalm: Überleben durch Arbeit? Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933-1945. Berlin 2009, S. 257 f.)     

Es kam zu Fluchten bzw. Fluchtversuchen einzelner Häftlinge, die entsprechend der Lagerordnung u.a. mit tagelangem Strafstehen der Mithäftlinge geahndet wurden. So erinnerte sich Leonhard Oesterle an die gleichzeitige Flucht dreier tschechischer Schutzhäftlinge (vor November 1943), die die Kasernenwache am Tor überwältigt hatten: "Dieser gelungene Fluchtversuch war eine Blamage für das Wachpersonal, das nun seine Wut an den Häftlingen ausließ: Sie mussten die restlichen Nachtstunden und den ganzen folgenden Tag unter freiem Himmel in Reih und Glied stehen bleiben. Es hieß, sie müssten ausharren, bis die Geflohenen gefasst wären." (a.a.O., S. 99f.)  Einer sei schließlich erschossen zurückgebracht, der zweite lebend eingefangen worden; vom dritten wurde behauptet, man habe ihn tot aufgefunden. Der ehemalige SS-Obergrenadier Scheinpflug erinnerte sich, ohne nähere Angaben, an eine weitere Häftlingsflucht im Frühjahr 1944, mutmaßlich ebenfalls in die Schweiz. (a.a.O., S. 40).  

Während des Arbeitseinsatzes 1941-43 am Schießstand und auf dem Kasernenareal kamen, durch überlieferte Dokumente aus Dachau nachweislich, mindestens zwei Häftlinge gewaltsam zu Tode. Jacob Dörr (geb. 1916) war erst am 25. April 1941 von seiner Geburtstadt Frankfurt in das KZ Dachau verschleppt worden und wurde dort mit der Häftlingsnummer 24562 als "Asozialer", d.h. "AZR"-Häftling von der Lagerverwaltung registriert. Ins Außenlager Radolfzell kam er dann allerdings als "politischer Vorbeugungshäftling", wo er beim Bau des Schießstandes von SS-Wachpersonal getötet - im Jargon der Täter "auf der Flucht erschossen" wurde [19]. Seine Leiche wurde noch am Tag der Ermordung am 11. (14.?) November 1941 im Krematorium Konstanz eingeäschert. 

Neueste Archivrecherchen des Vfs. erbrachten den Nachweis, dass der aus Oberschlesien stammende Häftling Fritz Klose (geb. 1904) aus dem KZ Sachsenhausen nach Dachau  und 1941 ins Außenkommando Radolfzell überstellt worden war; dort wurde er am 5. August 1943, mutmaßlich bei einem Außeneinsatz von einer SS-Wache getötet. Kloses Tod im Außenkommando Radolfzell lässt sich durch mehrere überlieferte Stammlagerdokumente belegen: durch das Verzeichnis der Dachauer Veränderungsmeldungen (ITS Digitales Archiv, ANF/KL-Listenmaterial Dachau, Ordner 105-(2007), Bl. 49); ferner durch die Schreibstubenkarte Fritz Kloses (1.1.6.7., doc. 10679205) und schließlich durch den Eintrag im Dachauer Totenbuch (1.1.6.1., Doc. 9923905, ITS Bad Arolsen), der als fingierte Todesursache "Unfall" nennt. In der Abschrift des Dachauer Totenbuches zwischen 11. Mai 1941 und 22. Mai 1945 - das Original ist verloren - sind insgesamt 8323 Tote in den rund 140 Dachauer Außenkommandos und - lagern verzeichnet, darunter zwei Tote, Jacob Dörr und Fritz Klose, im Außenkommando Radolfzell. Wie unrealistisch bzw. unvollständig diese lagerinternen Angaben sein müssen, verdeutlichten die Forschungen von Edith Raim, die allein für den Außenlagerkomplex Kaufering/Landsberg und Mühlhof 18434 Tote ermitteln konnte (vgl. Schalm, S.: Überleben, a.a.O., S. 296).     

Weder der 1941 ermordete Jacob Dörr noch die von Oesterle erinnerten drei geflohenen Tschechen sind auf der zitierten Häftlingsliste vom Mai 1942 zu finden - als einziger tschechischer Schutzhäftling ist dort Oldřich Sedláček (von der SS-Lagerverwaltung zu Ulrich Sedlacek 'verdeutscht', von seinem Freund Oesterle und den Mithäftlingen Uli genannt) aufgeführt, der mit Oesterle am 15./16. November 1943 fliehen konnte [20]. Sollten die drei Tschechen nicht schon vor Mai 1942 geflohen und /oder getötet worden sein, so wäre dies ein Beleg dafür, dass sie erst nach dem 18. Mai 1942 aus Dachau nach Radolfzell gekommen sind. Grundsätzlich sind die Veränderungen der Belegstärke durch Zugänge und Rücküberstellungen aufgrund einer unvollständigen Überlieferung von Stärkemeldungen und Überstellungslisten nur teilweise rekonstruierbar. Die maximale Anzahl der 113 Dachauer KZ-Häftlinge in Radolfzell, Stand 18. Mai 1942, dürfte trotz späterer Zugänge - belegt ist nur die Überstellung zweier weiterer Häftlinge im September 1942 (ITS 139, S. 250 u. 277) - nicht wesentlich überschritten worden sein. Insgesamt lassen sich auf Grundlage der archivalischen Überlieferung (Archiv Gedenkstätte Dachau, ITS Bad Arolsen) namentlich 120 Häftlinge eruieren, die das Außenkommando Radolfzell zwischen 1941 und 1945 'durchlaufen' haben. Belegt ist ferner, dass, nachdem die Arbeiten am Schießstand zum Abschluss gebracht worden waren, zwischen Ende Juni und Anfang Dezember 1942 insgesamt 84 Häftlinge nach Dachau rücküberstellt wurden (ITS Digitales Archiv, 1.1.6.1, Doc. 9916519; 9916550/51; 9916601; 9916617; 9916650, 9916763. ITS Bad Arolsen.). Einige wenige wurden dort entlassen, andere starben bald darauf in Dachau oder erlebten dort oder in einem Außenlager 1945 ihre Befreiung, die Mehrzahl von ihnen wurde jedoch von Dachau in andere Konzentrationslager verlegt – dokumentiert sind durch Häftlingspersonal-beziehungsweise Schreibstubenkarten-Einträge noch im Herbst 1942 Überstellungen u.a. nach Groß-Rosen (10. August 1942), Natzweiler (19. August 1942), Sachsenhausen (4. September 1942), Buchenwald (19. September 1942), Auschwitz (26. Oktober 1942), Neuengamme (2. November 1942) und Mauthausen (20. November 1942).  Eine seit 2008 online geführte Häftlingsdatenbank folgt den überlieferten Häftlings-Verzeichnissen des ITS Arolsen hier und ermöglicht bis auf wenige Ausnahmen die Rekonstruktion der einzelnen Schicksale der Radolfzeller Häftlinge, soweit sie sich durch Dachauer Dokumente erschließen lassen.

Laut Aussage des ehemaligen SS-Stabsscharführers Heinrich Schreiber (geb. 22.12.1912) kam es unter seiner Bauleitung nach Abschluss der Arbeiten am Großkaliberschießstand Altbohl 1944 zum Bau eines unterirdischen Kleinkaliberschießstands auf dem Kasernenareal (vgl. BArch B 162/16384, Bl.200-203). Der damalige SS-Mann Walter Scheinpflug ( geb. 1925), der zwischen Februar und Juni 1944 einen Unterführerlehrgang an der USR absolvierte, erinnert sich mutmäßlich in selbiger Sache an Ausschachtungsarbeiten für einen Tiefbunker neben dem Wirtschaftsgebäude, bei denen er den Einsatz von 12 bis 15 KZ-Häftlingen, darunter mehrere Tschechen, beobachtet habe. (Gespräch mit dem Verfasser im Oktober 2012). Am 16. Januar 1945 wurden die letzten 19 in Radolfzell verbliebenen KZ-Häftlinge in Richtung Dachau überstellt (vgl. Rücküberstellungsliste, ITS Digitales Archiv, 1.1.6.1, Doc. 9918188. ITS Bad Arolsen). Dreien gelang während des Eisenbahntransports die Flucht, die übrigen wurden nach einem Tieffliegerbeschuss nach Leonberg umgeleitet, wo sich ein Außenlager des KZ Natzweiler befand.

Der unmittelbare Nachfolger von Josef Seuß als 'Kommandoführer' (ab August 1942) bzw. Hugo Lausterer u.a. als Angehörige der Dachauer Wachmannschaft (ab Oktober 1942) ist bislang nicht eindeutig eruierbar; laut Oesterle hieß er "Künzle", Vorname unbekannt. Dessen Nachfolger ab Dezember 1943 war SS-Oberscharführer Hermann Rostek (1898-1970) der in Böhringen gemeldet war, auch nach 1945 dort lebte und bis zur Auflösung des Lagers im Januar 1945 Kommandoführer blieb und im Februar noch für wenige Monate Kommandoführer im Dachauer Außenlager Fischhorn (Zell am See, Salzburger Land) wurde. In einem Dachauer Folgeprozess (Case No. 000-50-2-68) wurde Rostek 1947 wegen seiner Tätigkeiten im KZ Dachau und den Außenlagern (1942-1945) zu zwei Jahren Haft verurteilt; im Gegensatz zu Seuß konnten ihm keine persönlichen Exzesstaten gegenüber Häftlingen nachgewiesen werden. [21]


Weitere, von amerikanischen Militärgerichten (Dachauer Folgeprozesse) verurteilte Angehörige des Dachauer SS-Wachpersonals im Außenkommando Radolfzell:

Hans Hahn , vgl. Case Nr. 000-50-2-18 (US vs. Johann Batoha et al.), tried 15. Novemberg 1946.  Nat.: German, age: 52,  rank: unknown,  sentence: 2 years.  Evidence for prosecution:  Volunteered for the Waffen-SS on 28.12.1939. He served as a guard at Flossenbürg, Dachau and outcamp Radolfzell et al.

Xaver Diethei, vgl. Case Nr. 000-50-2-38 (US vs. Karl Bester et al.), tried 23. December 1946. Nat.: German, age: 34, rank: SS-Corporal (SS-Rottenführer), sentence: 9 months. Evidence for prosecution: The accused served as a guard at Camp Dachau from March 1942 to May 1942, on outdetail Radolfzell from June 1942 to January 1943 and at Camp Dachau from January 1943 to 13 February 1943.  // Defence: On outdetail Radolfzell inmates got more food than guards, or they could not have worked. (sic!) (R76)

Georg Heinrich Hechler, vgl. Case Nr. dito. Nat.: German, age: 42, rank: SS-Sergeant (SS-Unterscharführer), sentence: 21 months. Evidence for prosecution: The accused served as a guard at outcamp Radolfzell (Bodensse) from 1 June 1941 to 1 July 1942, at Camp Dachau from 1 July 1942 to 5 Febraury 1943, as a farmer at outdetail Hinter-Ekart (Upper Bavaria) from 5 February 1943 to 12 May 1945. (…) He heard at outdetail Radolfzell that several inmates were slapped. // Defence: None fell out at details and at outdetail Radolfzell due to their physical condition, and inmate said the food was good there. (sic!) (R 88)

Gottlob Beck, vgl. Case Mr. 000-50-2-41 (US vs. Gottlob Beck et al), tried 10. September 1947. Nat.: German, age: 53, rank: SS-Sergeant (SS-Unterscharführer), sentence: 20 months. Evidence for prosecution: The accused served as a guard at outcamp Radolfzell from 2 July 1941 to February 1943 and at outcamp Augsburg from February 1943 to 27. October 1944.

Friedrich Zimpelmann, vgl. Case Nr. dito. Nat.: German, age: 32, rank:  SS-Corporal (SS-Rottenführer), sentence: 2 years.  Evidence for presecution: The accused served as a guard at outcamp Radolfzell from 17 (!) May 1941 to 15 July 1942 and at Dachau Concentration Camp from 16 July 1942 to 29 May (!) 1945. The accused stated, that he heard of mistreatments of inmates at Camp Dachau.

Friedrich Karl Nemetz, vgl. Case Nr. 000-50-2-48 (US vs. August Kühner et al), tried 8 January 1947. Nat.: Geman, age: 45, SS-Sergeant (Allgemeine SS und Waffen-SS), sentence: 1 year and 9 months . Evidence for prosecution: The accused was a guard at Camp Dachau and outcamp Radolfzell from December 1940 until April 1942. From April 1942 to 1 April 1945 he served as a clerk in the record office and personal section at camp Dachau. 

Ernst August Behrens (5.5.1912-10.11.1994), vgl. Case Nr. 000-50-2-26 (US vs. Ernst August Behrens et al.), SS-Unterscharführer, 19.5.1941-19.3.1942 in Radolfzell (dito, Bl. 152), Sentence: 2 years.

Freigesprochen wurden: 
 
Willi Kurt Josiger, (geb. 2.5.1888), SS-Unterscharführer, vgl. Case Nr. 000-50-2-47 (US vs Josef Glashauser et al), tried 10. January 1947. SS-Wachmann in den Außenkommandos Radolfzell und Feldafing, sowie Postenführer im Stammlager. Aussage 21.11.1946, NARA Trials of War Criminals RG153 B203; zit. Schalm, S. 121

Anton Alexander  Karch (geb. 8.12.1903), Dienstgrad unbekannt (dito), vgl.  Case No. 000-50-2-47 (US vs Josef Glashauser et al)

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Weitere, namentlich bekannte Angehörige des Dachauer SS-Wachpersonals und der USR,  die am Schießplatzgelände als Wachen bzw. in der Bauleitung eingesetzt waren, lt. Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge im Rahmen staatsanwaltlicher Vorermittlungen der Zentralen Stelle Ludwigsburg in den 70er Jahren. Das Verfahren wurde schließlich am 12.9.1978 von der Staatsanwaltschaft Konstanz eingestellt. Begründung: „Nichtermittlung des oder der Täter, insbesondere der Person namens Jacob oder Jakob Stock gemäß § 170 Abs. 2 StPO.“

Karl Klein (geb. 24.11.1906 in Kaiserslautern), vmtl. SS-Oberscharführer (Drehsen, Bl. 166).  Mai 1941-April 1942 im Außenkommando Radolfzell (vgl. BArch B 162/16384, Bl. 149).

Hans Kranzlein (geb. 7.5.1919), SS-Scharführer, 1937/38 Stammlager Dachau, Mai 1941-1942 in Radolfzell, danach SS-Division Nord,  Finnland (vgl. BArch B 162/16384, Bl. 149).

Georg Glück (geb. 10.4.1907), SS-Scharführer, zuletzt wohnhaft in Walldorf / Hessen (a.a.O.).

Georg Fischer (geb. 30.1.1890), SS-Mann, zuletzt wohnhaft in Marktgraiz/Bayern (a.a.O.).

Johann Deißler (16.5.1894-13.12.1959), SS-Rottenführer (a.a.O., Bl. 150).

Gustav Powileit (geb. 3.3.1899), SS-Rottenführer, 1942-1945 Wachmann im Außenkommando Radolfzell (a.a.O.)

Pius Wernet (16.6.1889-6.12.1957), SS-Hauptscharführer, Januar 1942-Januar 1943 in Radolfzell (a.a.O., Bl. 150), stammte vmtl. aus Radolfzell und wohnte dort in der SS-Wohnsiedlung: „Er war so eine Art Ingenieur und leitete die Arbeiten auf dem Schießplatz, soweit Vermessungen und so etwas vorgenommen wurden.“ (Aussage Drehsen, a.a.O., Bl. 166)

Franz –Josef Schneider (geb. ?-?), vmtl. SS-Oberscharführer, „war auch so eine Art Ingenieur, auch er wohnte in einer SS-Dienstwohnung in Radolfzell. Er kam öfters mit Zeichnungen und Skizzen auf den Bauplatz. Er war meistens mit dem Lagerkommandanten Seuß zusammen (…). (Dienstgrad: ) Er trug zwei Sterne und einen Balken.“ (Aussage Drehsen, a.a.O., Bl. 167)

Ludwig Schilling (geb. 8.11.1895), SS-Unterscharführer, Mai 1941-September 1941 in Radolfzell (a.a.O., Bl. 152)

(Ludwig ?) Schmidt, (geb. vmtl. in Mönchengladbach-1976 in Mönchengladbach), SS-Rottenführer oder SS-Unterscharführer, lt. Zeuge Josef Drehsen war Schmidt Stellvertreter von Kommandoführer Josef Seuß (BArch B 162/16384, Bl. 165)  Schmidt erschoss nach Aussage des Zeugen Alfons Krzbietke einen Häftling (Jacob Dörr (?)  auf dem Schießplatzgelände (Aussage vor dem Kriminalkommissariat München, 24.3.1969) „Während meines Aufenthaltes in Radolfzell habe ich nur eine Häftlingstötung miterlebt. Anfangs 1942 (!), während der Arbeiten am Schießstand, sah ich, wie der SS-Unterführer, er kann auch SS-Rottenführer gewesen sein, mit Namen Schmidt, einem mir namentlich nicht bekannten Häftling, der an der Lore arbeitete, die Mütze vom Kopf riss und diese außerhalb der Postenkette warf. Als der Häftling dann auf seinem Befehl die Mütze holen wollte und sich außerhalb der Postenkette begab, wurde er von Schmidt mit dem Karabiner erschossen. Nähere Einzelheiten von Schmidt sind mir nicht erinnerlich; ich würde ihn aber auf einnem Lichtbild sofort wieder erkennen.“ (BArch B 162/16384, Bl. 72)  

Jakob Stock (?-?), SS-Unterscharführer, aus Sachsen stammend, lt. Aussage des ehemaligen Häftlings Josef Drehsen, 8.12.1976, Amtsgericht Mönchengladbach, AS 23-31, erschoss Stock kurze Zeit vor Rücküberstellung Drehsens nach Dachau (26.8.1942) zwei Häftlinge bei der Arbeit im Schießplatzgelände. „Ziemlich gegen Ende meines Aufenthalts in Radolfzell war ich Zeuge, wie von einem Wachposten zwei Häftlinge erschossen worden sind. Die beiden Häftlinge waren dabei, eine Böschung oben einzuebnen. Ich war mit anderen Häftlingen unterhalb der Böschung mit Arbeiten beschäftigt. Plötzlich hörten wir zwei Schüsse. Die beiden toten Häftlinge lagen noch innerhalb des Arbeitsplatzes oben auf der Böschung. Einer der beiden hieß mit Vornamen Fritz. Den Namen des anderen weiß ich nicht mehr. Der SS-Mann, der die tödlichen Schüsse abgegeben hat, hieß Jakob Stock und stammte aus Sachsen. Er hat hinterher erklärt, daß die beiden Häftlinge flüchten wollten. Ich bin ganz sicher, daß dieser SS-Mann Jakob Stock hieß. Der Mann ist später SS-Unterscharführer geworden; zum Zeitpunkt der Schüsse war er meiner Erinnerung nach SS-Oberrottenführer (sic!). Sein Ärmelabzeichen bestand aus zwei Winkeln. “ (vgl. BArch B 162/16384, Bl. 164 v.)



"Ich kam in das Radolfzeller Außenlager. Ich war dort von Mai 1941 
bis August 1942 als Kommandoführer.
(...). Tatsächlich habe ich Leute nur  
geprügelt, als ich Kommandoführer in Radolfzell war. 
Im Dachauer Kerker habe ich vielleicht nur dreimal Schläge ins Gesicht ausgeteilt.
Es mögen auch mehr gewesen sein.
(...).

Als ich im Außenlager (Radolfzell) war, musste ich die Häftlinge
besonders hart behandeln."


Josef Seuß 1945 im Dachau-Hauptprozess;
Rückübersetzung aus dem englischen Affidavit: Markus Wolter.














Als Angeklagte im Dachau-Hauptprozess 1945 gegen Angehörige der Lager-SS:

Josef Seuß (untere Reihe, rechts)

Hugo Lausterer (zweite Reihe von oben, rechts)



Am 25. April 1945 erfolgte der Einmarsch der französischen Truppen, die Anfang Mai 1945 die Kaserne belegten und diese wie auch den Schießstand ohne größere bauliche Veränderungen nutzten.

Nach dem Abzug der französischen Streitkräfte 1977 sind das Kasernenareal und seine Gebäude sukzessive ziviler Nutzung geöffnet worden und gehören heute zum sogenannten 'Gewerbegebiet Nord' (Fotografien von Gebäuden und Areal heute: siehe "Radolfzeller Innovations- und Technologiezentrum"). 

Der aufgelassene Schießstand ist im zunehmend überwucherten Gelände in Ausmaß und Substanz deutlich erkennbar und erhalten.

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II.3. Radolfzeller Erinnerungskultur - Die "gefallenen Söhne der Stadt"




Das nationalsozialistische "Ehrenmal für die Gefallenen des Weltkriegs", Horst-Wessel-Platz (Luisenplatz).    
Bildkarte, gelaufen 13.9.1938, Kosmos, Franckh-Verlag Stuttgart. 

Nach Einladung und unter Federführung der früheren Radolfzeller SS-Angehörigen Willi Hille (Autor der im Selbstverlag 1967 erschienenen Bataillonsgeschichte der III.SS-
‚Germania’ 1935-1939
), Eduard Helmholtz, Helmut Behrendt, des SPD-Ortsvereinsvorsitzenden (1971-1976) Heinrich Winzenburg u.a. wurden in Radolfzell bis in die 70er Jahre von den Behörden wie selbstverständlich gebilligte und unterstützte Treffen des SS-"Traditionsverbands" der HIAG veranstaltet. Ihre fragwürdigen 'Kameradschaftstreffen' in hiesiger Gastronomie -Gasthof 'Zum Kreuz', "Weberstüble" (sic!) - fanden in öffentlichen Kundgebungen am 'Kriegerdenkmal' zum Volkstrauertag ihren jeweiligen Abschluss.

Bis in die jüngste Vergangenheit wurde weder auf dem Areal der ehemaligen Kaserne noch überhaupt in der Stadt in überzeugender Form, etwa in Gestalt eines eigenständigen Mahnmals oder einer Mahntafel, der Verbrechen und Opfer nationalsozialistischer Herrschaft gedacht. Das Kriegerdenkmal am Luisenplatz, als "Ehrenmal" für die "gefallenen Helden" des Ersten Weltkriegs vom Karlsruher Bildhauer Wilhelm Kollmar (1872-1948) geschaffen und von der stationierten SS-Truppe am 22. Mai 1938 "geweiht" (die Weiherede hielt Heinrich Koeppen), war und blieb - von einer marginalen, textlichen Umgestaltung und Erweiterung 1958 unbeschadet - bis heute der falsche Ort, um hier am Volkstrauertag der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken. In Idee und NS-Ästhetik repräsentiert es vielmehr und nahezu ungebrochen das zwischen 1939 und 1945 an und mit diesem Denkmal inszenierte SS-Ritual des nationalsozialstischen 'Heldengedenktags'. In diesem Zusammenhang kann nicht überraschen, dass auf den hinzugekommenen Bronzeplatten am fraglichen Denkmal unter den 561 Namen der im Zweiten Weltkrieg "gefallenen Söhne der Stadt" (Sockelinschrift 1958) auch einhundert (!) Angehörige der Radolfzeller SS-VT Germania zu finden sind: SS-Untersturmführer Walter Garbade, Ewald Kopplin, Helmut Krönlein und Siegfried Lützen, SS-Hauptsturmführer Werner Brückner  und Max Kille, SS-Sturmbannführer Markus_Faulhaber, die SS-Obersturmbannführer Paul Herms und Heinrich Koeppen, SS-Brigadeführer Joachim_Rumohr (falso: Joachim Rühmor) sind unter ihnen. Dass mit der im November 2011 über den Namenstafeln angebrachten Inschrift - Radolfzell gedenkt der Opfer der Gewaltherrschaft und der Toten aller Kriege - undifferenziert der SS-Täter als "Opfer" gedacht wird, verdeutlicht die in der "Erinnerungskultur" der Stadt fortgeschriebene Geschichte als anhaltende "Unfähigkeit zu trauern".  

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Zeitsprung: "Heldengedenktag", März 1942


Der Kommandeur der USR (1941-1943), SS-Sturmbannführer Thomas Müller.


Privatfotografien von Eibe Seebeck, BArch-MA, N 756/330b.

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Zeitsprung: "Kameradschaftstreffen" und "Gefallenen-Ehrung" der ehemaligen Angehörigen des III. Btl. Germania am 27./28. April 1963; aus der Rede des ehemaligen SS-Hauptscharführers und HIAG-Kreisvorsitzenden Willi Hille, Radolfzell: 

"Für lange Zeit wurde die Kaserne und die Stadt Radolfzell für Sie und für uns alle zweite Heimat. Manche Bekanntschaften, auch zärtlicher Art (sic!), wurden im Umgang mit der Bevölkerung geschlossen. Sie wissen: Das Verhältnis zur Bevölkerung war gut. Ein Großteil Verdienst daran gebührt unserem unvergesslichen Kommandeur Heinrich Koeppen. Ihr kennt ihn alle noch, den Mann mit dem immer strengen Blick. (....). Radolfzell hat uns schöne und unvergessliche Tage und Stunden bereitet. Wäre dem nicht so, dann würden nicht Jahr für Jahr immer wieder aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Ausland Kameraden an den Ort zurückkehren, der für viele den Anfang neuen  Lebens brachte."  (Aus "Der Freiwillige", Kopie in:  BArch-MA Freiburg, N756/108 b.

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Immerhin: Zum Volkstrauertag 2001 ließ die Stadt, deren Vertreter hier nach wie vor einmal jährlich Ansprachen halten und ihre Kränze ablegen, vor dem Denkmal eine transparente Text-Stele errichten, die dessen Fragwürdigkeit reflektiert: NS-Relikt und steingewordenes Symbol für eben die Verbrechen zu sein, an die die Stadt Radolfzell in Verantwortung ihrer Geschichte mit einem - erst noch zu schaffenden - Mahnmal erinnern müsste.

"Als dieses Denkmal 1938 aufgestellt wurde, waren die Planungen für den nächsten Krieg und den Holocaust schon weit fortgeschritten. Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden Opfer der nationalsozialistischen Unmenschlichkeit."

Und sonst?

Seit 2007 erinnert ein kleiner Gedenkstein auf dem Seetorplatz an die im Oktober 1940 bereits auf der Flucht befindliche Jüdin Alice Fleischel (1873-1941), die im Radolfzeller Gasthaus 'Schiff' seit April 1940 logierte, dort im Zuge der 'Wagner-Bürckel-Aktion' verhaftet und am 22. Oktober nach Gurs deportiert wurde, wo sie am 26. April 1941 starb.

Eine peripher gelegene Sackgasse auf dem Areal der ehemaligen Kaserne wurde nach dem im November 1941 von SS-Wachpersonal ermordeten KZ-Häftling Jacob Dörr benannt.

Anlässlich des offiziellen Gedenkens zum Volkstrauertag 2009 wurde am 'Kriegerdenkmal' in den Ansprachen zweier Gymnasiasten, Erik Thoma und Cem Güler, unter anderem die Forderung laut, die Veranstaltung an einen anderen Ort in der Stadt zu verlegen. In Eigeninitiative setzten sie außerdem mit ihrer Kranzniederlegung - "Zum Gedenken an die Menschen im KZ-Außenlager Radolfzell" - an der Textstele ein Zeichen des offenkundig und bleibend schwierigen Erinnerns in dieser Stadt.

Am 12. Januar 2010 beschloss der Kulturausschuss des Radolfzeller Gemeinderats die Einsetzung einer Projektgruppe mit der Maßgabe, im Eingangsbreich der ehemaligen Kaserne ein Mahnmal resp. eine Gedenkstätte  (Kunstwerk mit historischer Dokumentation auf Texttafeln) einzurichten. Unter Auflage wurde ein finanzieller Zuschuss für die Realisierung des Theaterstücks 'Die Flüsterstadt' von Gerhard Zahner bewilligt, dessen Premiere unter der Regie von Stefan Bresser am 9. April 2010 im Scheffelhof stattfand. Am 16. April 2010 wurde der neue Dokumentarfilm des Radolfzeller Filmemachers Günter Köhler über die SS-Kaserne und NS-Vergangenheit Radolfzells im ehemaligen Milchwerk gezeigt; im Anschluss daran gab es eine Podiumsdiskussion. 

In privater Initiative wurde am 16. Juni 2010 im Kugelfang einer der drei Kurzbahnen der ehemaligen SS-Schießanlage eine Mahntafel installiert. Es entstand so eine gleichermaßen verborgene wie offene - und öffentliche Gedenkstätte, die den Opfern nationalsozialistischer Gewalt und Menschenverachtung an diesem Ort gewidmet ist.



113 Häftlinge des KZ Dachau, Außenlager Radolfzell, 
wurden hier 1941 und 1942 geschunden.
  
Unter unmenschlichen Bedingungen wurden sie gezwungen, 
die Schießanlage der SS fertigzustellen. 
 

"Ich war enttäuscht darüber,  
wie wenig man von uns wissen wollte."
 
Leonhard Oesterle (1915-2009), Häftling 
 
 
Ihnen zum Gedächtnis.


Chronologie der weiteren Ereignisse in Sachen Erinnerungs- und Gedenkpolitik:

08.09.2013: Am diesjährigen Tag des offenen Denkmals wird eine vom Pforzheimer Künstler René Dantes geschaffene Gedenkskulptur mit vier Informationstafeln öffentlich eingeweiht. Das in der Zufahrt zum Stabsgebäude der ehemaligen SS-Kaserne (heute RIZ) errichtete Ensemble ist zusammen mit den Informations- und Gedenktafeln am Schießstand und dem Gurs-Mahnmal künftig Teil einer dezentralen NS-Gedenkstätte der Stadt Radolfzell. → vgl. Südkurier, 8.9.2013 und Südkurier 9.9.2013

16.11.2012: Am ehemaligen SS-Schießstand wurde die neue Informationstafel durch Oberbürgermeister Dr. Jörg Schmidt der Öffentlichkeit übergeben. Unter den geladenen Gästen waren u.a. Anna-Katrin Oesterle-Stephan und Miryam Stephan, Tochter und Enkelin des am 15. November 1943 geflüchteten  Häftlings Leonhard Oesterle. -> vgl. [[http://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/radolfzell/Gedenktafel-am-SS-Schiessstand-enthuellt;art372455,5775848|Südkurier, 17.11.2012]]

16.10.2012:  In öffentlicher Sitzung des Gemeinderats stimmen die Stadträte für die von der Projektgruppe Radolfzeller Gedenkstätten erarbeiteten Textentwürfe (Achim Fenner, Markus Wolter) für die Informationsstelen an der ehemaligen SS-Kaserne. Außerdem votieren sie für die Umsetzung der Informationstafel (Markus Wolter (Text)), Alfred und Evelyn Heim (Gestaltung, Layout), am ehemaligen SS-Schießstand. Die Gedenkstätten sollen noch in diesem Jahr eingerichtet werden. Die Realisierung einer kommentierenden Umgestaltung des Kriegerdenkmals am Luisenplatz wird hingegen auf das Jahr 2014 verschoben.

20.03. und 28.02.2012: Sitzungen und Beschluss des Gemeinderats über den Kauf des Schießplatz-Areals.  Was im Herbst 2011 bereits beschlossene Sache zu sein schien, ist nun  doch wieder Gegenstand von Bedenken und Verhandlungen. Der Gemeinderat konnte und wollte in seiner Sitzung vom 28. Februar 2012 den zur Frage und Annahme stehende Kaufvertragsentwurf über die Schießanlage zunächst nicht beschließen. Stattdessen wurden Bedenken wegen der Altlasten-Sanierung und möglicher Folgekosten laut und die Entscheidung wurde auf den 20.03.2012 vertagt. Ergebnis der Sitzung vom 20.3.2012: Unter der Voraussetzung von "Kaufvertragskorrekuren", d.h. einer von der bisherigen Eigentümerin, BfIA, ausdrücklich getragenen Bodensanierung und nach Untersuchung des Terrains durch den "Kampfmittelbeseitigungsdienst", habe der Verwaltungs- und Finanzausschuss mehrheitlich beschlossen, das Gelände zum bekannten Preis von 57.000 EUR zu kaufen. Dass aber "weder die Verwaltung noch der Gemeinderat wüssten, was sie mit dem Gelände anfangen sollen" (Zit. OB J. Schmidt), gibt zu denken. Der Oberbürgermeister, der sich gegen den Kauf aussprach, sehe die Stadt überdies "nur eingeschränkt in einer historischen Verantwortung, Rechtsnachfolger der NS-Zeit bleibe die Bundesrepublik. Sein Votum gegen den Kauf des Geländes begründete er mit dem Hinweis auf die nicht geklärte Nutzung." 

23.02.2012: Der Stadt Radolfzell liegt nun das Kaufvertragsangebot der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben für das Gelände der SS-Schießanlage vor. Der Kaufpreis für das 69.216 m² große Areal beträgt 57 000 Euro. Der Kaufvertragsentwurf sieht auch vor, dass die Entsorgung der vor allem mit Blei kontaminierten Sande der Kugelfänge durch die Bundesanstalt übernommen wird. Der Kaufvertragsentwurf wird am Dienstag, 28. Februar, in der um 16.30 Uhr beginnenden Sitzung des Verwaltungs- und Finanzausschusses nochmals diskutiert. Das letzte Wort in der Sache hat danach das Plenum des Gemeinderats. 

11.10.2011: Der Radolfzeller Gemeinderat hat sich in seiner Sitzung vom 11.10.2011 für die Realisierung des Entwurfs des Pforzheimer Künstlers René Dantes (geb. 1962) zur Gestaltung einer „Erinnerungsstätte“ im Eingangsbereich der Kaserne (Errichtung voraussichtlich 2012) mehrheitlich entschieden. Die Kosten (EUR 10.000 für vier Informations-Stelen und EUR 30.000 für eine Edelstahl-Skulptur) sollen von der Stadt getragen werden.

27.09.2011: Der Verwaltungs- und Finanzausschuss des Radolfzeller Gemeinderats hat in seiner Sitzung am 27. September 2011 den Kauf des bislang in Bundeseigentum befindlichen, 69212 qm großen Geländes des ehemaligen SS-Schießplatzes zu einem Preis von 57.000 Euro beschlossen. Das von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben gemachte Angebot sieht vor, das Gelände „altlastenfrei“ und also nach Entfernung der bleiverseuchten Sande an die Stadt zu verkaufen. Wie allerdings der geschichtlich kontaminierte Ort als bleibende Erinnerungs- und Mahnstätte erhalten werden soll und kann, wird noch zu entscheiden sein.

08.04.2011: Das Weltkloster lädt ein zu einem „Versöhnungsweg“ zwischen der SS-Kaserne und dem SS-Schießstand, zum Gedenken an die ehemaligen Häftlinge des Dachauer Außenkommandos Radolfzell (1941-1945) und aller in jener Zeit in Radolfzell Verfolgten. Die Namen von 121 KZ Häftlingen werden verlesen. Am Pistolenschießstand der SS-Schießanlage werden 121 mit den Häftlingsnamen beschriftete Steine in einem Zementrahmen verankert.

07.04.2011: Vernissage zur Ausstellung „Größte Härte… Verbrechen der Wehrmacht in Polen (September bis Oktober 1939)“, die vom 7. April bis 22. Mai 2011 im Stadtarchiv Konstanz gezeigt wird. Ein Teil der Ausstellung und des Begleitprogramms stellt den lokalen Bezug zur SS-Standarte Germania in Radolfzell her, die sich am Überfall auf Polen beteiligt hatte.

03.04.2011: „Außenkommando“ – Die Waffen-SS und Dachauer KZ-Häftlinge in Radolfzell. Zweistündiger Vortrag des Historikers Markus Wolter im Bürgersaal von Radolfzell.

15.12.2010: Dem früheren NSDAP-Kreisleiter, Gauinspekteur und Oberbürgermeister von Radolfzell, Eugen Speer, wird die Ehrenbürgerschaft aberkannt. Speer galt als korrupt und als brutaler Machtmensch. Im Juli 1934 eröffnete er die Wahlkampfkundgebung von Hitler vor 35.000 ZuhörerInnen im Mettnau-Stadion. Sein Amt als Oberbürgermeister übte er von Januar 1934 bis Juni 1935 aus. Nicht zuletzt seiner Initiative hat Radolfzell es zu verdanken, dass sie Standort für eine SS-Kaserne wurde. → vgl. Südkurier 8.10.2010

November 2010: Eintrag der SS-Kaserne und der SS-Schießanlage beim Online-Kartendienst OpenStreetMap als Gedenkort.

14.11.2010: Im Anschluss an den Festakt und als kritische Antwort auf das offizielle Gedenken werden Flyer verteilt und die Initiative zum Offenen Gedenken vorgestellt. Es wird zur Mitarbeit u.a. an dem Wiki Radolfzell zur NS-Zeit“ unter http://radolfzell-ns-geschichte.von-unten.org/ eingeladen.

14.11.2010: Der Festakt zum Volkstrauertag in Radolfzell wird entsprechend dem Konzeptvorschlag der Arbeitsgruppe vor dem von der Waffen-SS geweihten Kriegerdenkmal am Luisenplatz durchgeführt. OB Schmidt beschreibt in seiner Rede die Auseinandersetzung des letzten Jahres um die Art und Weise des offiziellen Gedenkens. → vgl. Südkurier 15.11.10

28.10.2010: Das neue Konzept zur Begehung des Volkstrauertages am 14.11.2010 wird von der damit befassten Arbeitsgruppe im Gemeinderat vorgestellt und diskutiert. Das Ergebnis: der Gedenkort bleibt der alte, die Inschrift soll nun lauten: „Ra­dolf­zell ge­denkt der Opfer der Ge­walt­herr­schaft und der Toten aller Krie­ge“

13.10.2010: Begehung der SS-Schießanlage zusammen mit einem Vertreter der für das Gelände zuständigen Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Die Bundesanstalt legt der Stadt Radolfzell nahe, das Gelände zu kaufen. Eine Sanierung wurde mit 70.000 Euro veranschlagt.

28.09.2010: Im Stadtmuseum Radolfzell wird in einem Raum die Dauerausstellung „Radolfzell gestern“ eröffnet, in der u.a. die SS-Kaserne, der SS-Schießstand, der Besuch von Hitler im Mettnaustadion, etc. zur Sprache kommen.


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Der von KZ-Häftlingen 1941/42 gebaute SS-Schießstand, Radolfzell.
Oben die mittlere, unten die östliche der drei von Erdwällen begrenzten Schussbahnen mit Hochblenden.
Die Holzverkleidungen wurden größtenteils entwendet (12.04.2009, Markus Wolter).


]


"Die Arbeit auf dem Schießstand war hart. Alles mußte von Hand gemacht werden;
es gab keine Maschinen, lediglich Loren, auf denen die Erde für die Seitenwände,
die 
(die Häftlinge) aufschütten mußten, herbeigeschoben werden konnte."[22]





§1

Mit drei Tagen strengem Arrest wird bestraft:

Wer nach dem Weckruf nicht sofort die Schlafstelle verlässt oder das Bett oder die Stube nicht in Ordnung bringt.

(...)

§3

Mit fünf Tagen strengem Arrest und mehrwöchentlicher Strafarbeit wird bestraft:

1. Wer einem Zählappell oder einem Appell zur Arbeitseinteilung ohne Grund oder Genehmigung seines Stationsführers fernbleibt.

2. Wer sich ohne Grund zum Arzt meldet oder nach erfolgter Krankmeldung nicht unverzüglich den Arzt aufsucht, ferner, wer ohne Wissen des Stationsführers sich zum Arzt oder Zahnarzt meldet oder das Revier aufsucht.

(...)

§ 5

Mit 8 Tagen strengem Arrest und mit mehrwöchentlicher Strafarbeit wird bestraft:

1. Wer sich vor der Arbeit drückt oder zum Zwecke des Nichtstuns körperliche Gebrechen vorschützt oder Krankheiten.

2. Wer ohne Befehl eine Arbeitsstätte oder Werkstatt verlässt, vorzeitig einrückt, seine Abmeldung beim aufsichtsführenden SS-Mann unterlässt, sich beim Verlassen bei einem Mitgefangenen abmeldet."

(...)

§ 15

Wer sich wiederholt von der Arbeit drückt, trotz vorhergehender Verwarnung den Appellen zur Arbeitseinteilung oder den Zählappellen fernbleibt, sich dauernd ohne Grund zu Arzt oder Zahnarzt meldet, körperliche Leiden oder Gebrechen vorschützt, nicht ausrückt, dauernd faul und träge sich benimmt, beanstandet wurde, anstößige Briefe schreibt, (...) wird wegen Unverbesserlichkeit mit dauernder Strafarbeit, mit Arrest, mit Strafexerzieren oder mit Prügel bestraft.

(...)

§ 19

Arrest wird in einer Zelle, bei hartem Lager, bei Wasser und Brot vollstreckt. Jeden 4. Tag erhält der Häftling warmes Essen. Strafarbeit umfasst harte körperliche oder besonders schmutzige Arbeit, die unter besonderer Aufsicht durchgeführt wird. Als Nebenstrafen kommen in Betracht: Strafexerzieren, Prügelstrafe, Postsperre, Kostentzug, hartes Lager, Pfahlbinden, Verweis und Verwarnungen. Sämtliche Strafen werden aktlich vermerkt. Arrest und Strafarbeit verlängern die Schutzhaft um mindestens 8 Wochen; eine verhängte Nebenstrafe verlängert die Schutzhaft um mindestens 4 Wochen. In Einzelhaft verwahrte Häftlinge kommen in absehbarer Zeit nicht zur Entlassung." [23]



Der hangwärts gestaffelte Kugelfang am Ende der drei Langbahnen, seitlicher Erdwall (12.04.2009, Markus Wolter).



Bunkeröffnungen der Zielscheibenanlage vor dem Kugelfang der Langbahnen (12.04.2009, Markus Wolter).

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Copyright ©2011 by Markus Wolter, Freiburg

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Anmerkungen:

1. Vgl. Tobias Engelsing: „Wir sind in Deutschland und nicht in Russland“. Eine Alltagsgeschichte der Volksschule in den Jahren 1933-1949 am Beispiel der Stadt Radolfzell am Bodensee. (Lengwil): Libelle / Faude, 1987. Trotz der spezifischen Fragestellung insgesamt eine gute Einführung und Übersicht zum bislang in der Forschungsliteratur ungenügend bearbeiteten Thema 'Nationalsozialismus in Radolfzell'.

2. An der von NSDAP- Bezirksleiter Eugen Speer eröffneten Versammlung nahmen nach Angaben des Bürgermeisters Otto Blesch zu nächtlicher Stunde etwa 35.000 Menschen teil. Vor Hitlers 30minütiger Rede (Beginn nach 23.55 Uhr) sprachen der Gründer der NSEAP, Theodor Fischer, und der Münchner Stadtrat Hermann Esser. Die maschinelle Transkription einer stenographischen Mitschrift der Rede (Bundesarchiv, NS 26/52) ist abgedruckt in: Lankheit , Klaus A. (Hg.): Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Band V, Teil 1: April 1932-September 1932. München 1996, S. 282-288.

3. Vgl. Franz Götz: Geschichte der Stadt Radolfzell. Schrift- und Bilddokumente, Urteile, Daten. Radolfzell (Hegau-Bibliothek; Band 12) 1967, S. 270 f.

4. In einem Brief an den Kultusminister pries Bürgermeister Jöhle im April 1939 den unter dem Gesichtspunkt nationalsozialistischer Rassenlehre 'weltanschaulichen' Wert der 'Urzeitsiedlung': "Durch die hier gebotene Vergleichsmöglichkleit zwischen der Behausung der mittelsteinzeitlichen westischen Rasse und dem jungsteinzeitlichen Gehöft der nordisch-indogermanischen Menschen, wird auf eindringliche, jedem verständliche Weise veranschaulicht, welch hohe Kultur auf allen Lebensgebieten mit der Landnahme der nordischen Menschen in unserem Raume eingezogen ist." (Stadtarchiv Radolfzell; zit. in: Tobias Engelsing: a.a.O., S. 54 f. Vgl. Hans Reinerth: Freilichtmuseum Radolfzell-Mettnau. Führer durch die Steinzeitbauten, Radolfzell, Huggle und Rehm (1938). Zur nationalsozialistisch-völkisch geprägten Ur- und Frühgeschichte unter Hans Reinerth: Rüdiger von Bruch (Hg.): Die Berliner Universität in der NS-Zeit, Bd. II: Fachbereiche und Fakultäten. Stuttgart, Wiesbaden, Franz Steiner Verlag 2005; hier: Achim Leube: Die Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, S. 149-165.   

5. Vgl. Josef Zimmermann: ''Kriegsgeschehen 1939-45 und erste Besatzungszeit''. Unveröffentlichtes Manuskript im Stadtarchiv Radolfzell o. Sig.

6. Der Architekt der Kaserne war Hermann Reinhard Alker (1885-1967). Alker studierte an der Technischen Hochschule Karlsruhe bei Josef Durm, Friedrich Ostendorf und Hermann Billing. Ab 1921 lehrte er dort als Professor. 1935 wurde er von den Nationalsozialisten als einer von 12 Durlacher Stadtverordneten eingesetzt. 1936 erhielt er den Kulturpreis des Gauleiters von Baden, Robert Wagner , anschließend die Stellung als Stadtbaurat für besondere Aufgaben in München, die er aber 1938 nach Differenzen mit Hitler wieder verlor. 1939 bis Kriegsende war Alker als Nachfolger von Hermann Billing Professor an der TH Karlsruhe. In der Zeit des Nationalsozialismus entstanden nach Plänen Alkers oder wurden von ihm entworfen: Thingstätte Heidelberg 1934-1936, Entwurf Thingstätte Karlsruhe 1934-1937, Stadthalle Gießen 1936, SS-Kaserne Radolfzell 1936/1937, Wettbewerbsentwurf Gauhaus Karlsruhe 1937, Städtebauliche Planungen München 1937/1938, Schlageter-Denkmal Schönau im Wiesental 1937-1939, Entwurf Gästehaus der Stadt München 1938-1941, Entwurf Neubebauung des Hochschulgeländes Karlsruhe 1940-1941, Wettbewerbsentwurf "Gauhauptstadt Straßburg" 1941. Die Militärregierung entließ ihn wegen seiner NS-Vergangenheit. 1950 wurde er nachträglich emeritiert.

7. Vgl. zu diesem Komplex das umfangreiche Archivmaterial im Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg, Bestandsgruppe N 756/330b und Bestandsgruppe RS 5, SS-Unterführerschule Radolfzell 1941-1944 sowie im Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde Bestandsgruppe NS 19/3512: Errichtung einer SS-Unterführerschule in Radolfzell, Jan. 1941; hier: SS-Führungshauptamt, Geheime Kommandosache RFSS / T-175 104/2627169f. vom 29. Januar 1941.

8. Vgl. Martin Weinmann (Hg.): Das nationalsozialistische Lagersystem, Frankfurt am Main 1990, S. 554.

9. Vgl. Werner Hilgemann: Atlas zur deutschen Zeitgeschichte 1918-1968, München, Piper 1984, S. 191.

10. Vgl. hierzu: Dietrich Gläser: Die Nacht, in der die Fenster klirrten - Die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 in Konstanz und im Hegau, in: Hegau. Zeitschrift für Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Rhein, Donau und Bodensee. Themenband "Jüdische Kultur im Hegau und am See", Jahrbuch 64/2007. Singen, Hegau-Geschichtsverein 2007, S. 185-210)   

11. Vgl. Frei, Alfred G. / Runge, Jens (Hg.): Erinnern-Bedenken-Lernen. Das Schicksal von Juden, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zwischen Hochrhein und Bodensee in den Jahren 1933 bis 1945, Sigmaringen, Thorbeckke 1990, S. 38-42; S. 98-103; Wiehn, Erhard Roy: Zum Reichspogrom 1938. Die Ereignisse in Konstanz 70 Jahre danach zum Gedenken. Konstanz 2008; Tobias Engelsing: „Die Bude muss weg“. Die Konstanzer Synagoge brennt während der NS-Jahre gleich zweimal. Die Täter gehen nach dem Krieg straffrei aus, in: DIE ZEIT, Geschichte, 4 (2008), 1938. Abschied der Zivilisation, S. 51-53 (online: hier); ders.: Im Verein mit dem Feuer. Die Sozialgeschichte der Freiwilligen Feuerwehr von 1830-1950, Konstanz Faude Verlag 1990. | Zum Prozess gegen Walter Stein vor dem Landgericht Konstanz, Gerichtsakten: Staatsarchiv Freiburg, F 178/2, Nr. 41-46. Delikt: Schwere Brandstiftung, Zerstörung der Konstanzer Synagoge. Darin: Urteil des Bezirksgerichts Danzig 1949 gegen Walter Stein wegen seiner Tätigkeit in Torun (Thorn) 1941.   

12. Vgl. hierzu das Archivmaterial im Bundesarchiv, Militärarchiv Freiburg, Bestandsgruppe N 756/337a.

13. Vgl. Richard Landwehr: Alarm Units! SS Panzergrenadier Brigades 49 and 51, Merriam Press, 2006.)

14. Zu System und Struktur, Häftlingen und Haftbedingungen der Dachauer Außenlager und Außenkommandos grundlegend:  Sabine Schalm: Überleben durch Arbeit?  Außenkommandos und Außenlager des KZ Dachau 1933-1945. Berlin, Metropol Verlag 2009. Vgl. auch: Wolfgang Benz, Barbara Distel: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 2: Frühe Lager: Dachau, Emslandlager. München, Beck 2005, 607 S.; hier: Achim Fenner: Radolfzell, S. 468/469.

15. Zit. nach: Martin Broszat: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Anatomie des SS-Staates, Band II: Konzentrationslager, Kommissarbefehl, Judenverfolgung, Olten und Freiburg, Walter-Verlag 1965, S. 60 f.

16. Review of Proceedings of General Military Court in the Case United States vs. Martin Gottfried Weiss et. al. (pdf, 40 MB), hier: Affidavit von Josef Seuß: S. 27f.:"I have really beat up people only when I was work detail leader at Radolfzell. (...). When I was at the by-camp (i.e. Radolfzell), I had to treat the prisoners particularly hard." (a.a.O., S. 28) 

17. Rückübersetzung aus dem englischen Originalprotokoll: Review of Proceedings of General Military Court in the Case United States vs. Martin Gottfried Weiss et. al. (pdf, 40 MB), hier: Affidavit von Hugo Lausterer: S: 61f.: "My first assignment after I joined the SS (10. Dezember 1941) was in Dachau. I was a guard there from 10. December 1941 until February 1942. At the end of February 1942 I was sent to Radolfzell as a guard on a work detail. The detail was made up of about 120 prisoners from Dachau. SS-Master Sergeant SEISS (sic!) was the commander of the detail .. We built a rifle range for the SS-School at Radolfzell and completed it in October 1942 and then returned to Dachau. SS-Master Sergeant SEISS (sic!) struck the prisoners very often while they were at Radolfzell. He struck them with his hands, with sticks, and also kicked them. Once I saw him strike a sick prisoner because this prisoner was too ill for work. I also saw SEISS (sic!) kick prisoners down an embarkment that was 30 to 50 meters high. He did this after striking them." (a.a.O.) 

18. Vgl. Sigbert E. Kluwe: Glücksvogel. Leos Geschichte. Baden-Baden 1990, S. 96/100/101.

19. Vgl. die überlieferte Schreibstubenkarte Jacob Dörrs, auf der als Todesdatum fälschlicherweise (?) der 14. November 1941 eingetragen ist; ITS Digitales Archiv, 1.1.6.7, Doc. 10633685. ITS Bad Arolsen; ebenso unter dem Datum des 14. Nov. 1941 findet sich der Eintrag zum Tod Dörrs im Dachauer Totenbuch (1.1.6.1, Doc. 9923749, Bl. 41); vgl. dagegen das überlieferte Schreiben des damaligen Dachauer Lagerkommandanten, SS-Sturmbannführer Alexander_Piorkowski, vom 17. November 1941 an das Standesamt Radolfzell zum Tod des "politischen Vorbeugungshäftlings" Jacob Dörr am 11. November 1941 (Stadtarchiv Radolfzell, B1 112-4).

20. Der 1947 geborene Sohn Oldřich Sedláčeks, Jiří Sedláček, bestätigte 2010 außerdem, dass sein Vater, dreißigjährig, an den Folgen der KZ-Haft bereits 1949 starb: "My father, Oldřich Sedláček, was in Dachau since 1939 [recte 1940] as a political prisoner, and in Nov. 1943, he and a German sculptor escaped from a Dachau subsidiary camp across Bodan lake into Switzerland. My father died when I was two, in 1949. His health was damaged in Dachau." Jiří Sedláček.  -   Die Lagerbürokratie Dachaus verzeichnete die Flucht auf der Personenkarte Sedláčeks mit dem ihr eigenen, abkürzungsreichen Idiom: "Abg. d. Fl. 16 Nov 1943" (=Abgang durch Flucht). 

21 Vgl. Bestätigung des Urteils gegen Hermann Rostek: Digitalisat des Reviews von Case No. 000-50-2-68 (US vs. Josef Hintermayer et al).

22. Sigbert E. Kluwe: Glücksvogel. Leos Geschichte, S. 98. 

23. Auszug aus der auch für das Außenlager Radolfzell geltenden 'Lagerordnung', der 'Disziplinar- und Strafordnung' des Konzentrationslagers Dachau.   



(Alter) Städtischer Friedhof, Westportal. Markus Wolter, April 2009


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Leonhard Oesterle (1915-2009)

Der 1915 in Bietigheim-Bissingen als Sohn einer Arbeiterfamilie geborene Oesterle agierte für die im nationalsozialistischen Deutschland 1933 verbotene KPD als Mittelsmann und Schriftkurier zwischen der Partei und einer im Untergrund tätigen Widerstandsgruppe des verbotenen Kommunistischen Jugendverbands (KJVD), die Stuttgarter Gruppe G um Hans Gasparitsch[1], die Flugblätter verteilte und Anti-Hitler-Parolen an Wänden und Denkmälern anbrachte. In Zusammenhang mit einer ihrer Aktionen im Frühjahr 1935, bei der die meisten Mitglieder verhaftet wurden, wurde Oesterle von eigenen Leuten denunziert, in Stuttgart von der Gestapo festgenommen und am 14. Oktober 1936 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat" zu fünf Jahren Zuchthaus mit anschließender Schutzhaft verurteilt.[2] Seine Haftstrafe trat Oesterle im Gefängnis Ludwigsburg an und wurde im August 1938 als Arbeitshäftling in Arbeitskommandos in Zweibrücken (Panzersperren für den Westwall), danach zum Straßenbau im Böhmerwald (Bayerische Ostmarkstraße) und schließlich in das Strafgefangenen- und Arbeitslager Börgermoor überstellt. Nach Verbüßung der fünfjährigen Haft kam er 1940 in Schutzhaft: zunächst in das Schutzhaftlager Welzheim und am 25. Mai 1940 in das Konzentrationslager Dachau (Häftlingsnummer 11547), wo er anfangs dem Kommando unter Baukapo Karl Wagner zugewiesen wurde und später als Funktionshäftling unter Revierkapo Josef Heiden als Häftlingspfleger arbeiten musste. Im Mai 1941 wurde Oesterle mit 112 weiteren KZ-Häftlingen unter Kommando des Dachauer SS-Hauptscharführers Josef Seuß in das Dachauer Außenkommando Radolfzell überstellt, von wo ihm am 15. November 1943 gemeinsam mit einem tschechischen Mithäftling die Flucht in die Schweiz gelang.[3]

In der Schweiz begann Oesterle eine bildhauerische Ausbildung bei dem im Exil lebenden österreichischen Bildhauer Fritz Wotruba, der in Zug sein Atelier hatte. Im Jahr 1945 bekam Oesterle ein Stipendium der Evangelischen Flüchtlingshilfe an der Kunstgewerbeschule Zürich. Studium der Bildhauerei bei Ernst Gubler. Oesterle arbeitete im Anschluss einige Jahre mit dem Zürcher Bildhauer Otto Müller zusammen, mit dem er sein Atelier teilte. Freundschaft mit Max Frisch. 1952 Rückkehr nach Deutschland, zunächst nach München, später nach Berlin. 1956 wanderte Oesterle nach Kanada aus. Von 1963 bis 1987 lehrte er Bildhauerei am Ontario College of Art & Design in Toronto. 1990 erschien mit dem preisgekrönten Jugendroman Glücksvogel. Leos Geschichte von Sigbert E. Kluwe[4] eine literarische Biografie Oesterles. Anlässlich einer Retrospektive in Bietigheim-Bissingen 1991 besuchte Oesterle nach langer Zeit wieder seine Geburtsstadt[5], der er 1996 Skulpturen und Arbeiten auf Papier als Schenkung überließ. Oesterle war Mitglied der Royal Canadian Academy of Arts, die 1992 eine Ausstellung mit Oesterles Skulpturen in Toronto zeigte. Oesterle war 2005 letztmals in Deutschland: anlässlich seines 90. Geburtstags zeigte die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen eine Retrospektive seines bildhauerischen Werkes. Oesterle starb am 7. November 2009 in Toronto und wurde auf dem Städtischen Friedhof Stubenrauchstraße in Berlin-Friedenau beigesetzt.[6] [7] [8]

Werk

Oesterles Skulpturen in Metall und Stein entwickelten sich ausgehend von der klassisch orientierten figürlichen Plastik-Tradition der Schweiz. Bis auf eine kurze abstrakte Phase galt Oesterles Interesse dabei vor allem der menschlichen Figur: Seine Arbeiten zeigen zum einen schlanke, weibliche Figurinen, die in ihrer sehr lebendigen Oberflächenbeschaffenheit ihre Aufbauarbeit mit Wachs erkennen lassen; zum anderen sind es Figuren mit rund schwellenden, voluminösen Gliedmaßen, die von der Schnitzkunst der Eskimos inspiriert sind. Die biographische Erfahrung seiner jahrelang erlittenen Haft wurde von Oesterle künstlerisch ganz bewusst ausgespart. Sein Werk befindet sich in öffentlichen und privaten Sammlungen in den U.S.A., Kanada und in Europa. In Bietigheim ist es mit mehreren Skulpturen im öffentlichen Raum der Stadt vertreten. [9]

Einzelnachweise:

1 Vgl. hierzu: Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg, Ulm. Hans Gasparitsch veröffentlichte 1960 unter dem Pseudonym Fritz Kaspar die in erzählerischer Form dargebotenen „Erlebnisberichte" der jungen Widerstandskämpfer. Die Namen der Beteiligten wurden dabei verändert; Leonhard Oesterle ist in der Figur des „Hardy Weiland" zu erkennen. „Einige Begebenheiten" wurden derart „literarisch ausgeschmückt" (Nachwort), dass sie historisch nicht belegbar sind beziehungsweise mit den belegbaren Fakten nicht übereinstimmen; vgl. Fritz Kaspar: Die Schicksale der Gruppe G. Nach Aufzeichnungen und Briefen, Berlin 1960.

2 Die nationalsozialistische Lokalpresse berichtete am 24. November 1936 unter der Überschrift Hohe Zuchthausstrafen für Staatsfeinde unter anderem wie folgt: Gegen Leonhard Oesterle von Bietigheim/Enz sprach der Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart eine Zuchthausstrafe von 5 Jahren, drei Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit von Polizeiaufsicht aus, weil er von April 1934 bis Februar 1935 an leitender Stelle am Neuaufbau der KJ. in Stuttgart tätig war und bei der Herstellung von Zeitschriften der KJ. mitwirkte. (...) Auch diese Urteile zeigen mit aller Deutlichkeit, daß (...) der nationalsozialistische deutsche Staat nicht von vaterlandslosen Gesellen in seiner schweren, aber erfolgreichen Arbeit am deutschen Volke gestört und gefährdet wird. Vgl. Ulmer Sturm. Nationale Rundschau Nr. 274 (24.11.1936)

3 Zu Leonhard Oesterle im Dachauer Außenkommando Radolfzell vgl. Markus Wolter: Radolfzell im Nationalsozialismus. Die Heinrich-Koeppen-Kaserne als Standort der Waffen-SS, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, Band 129, Ostfildern, Thorbecke 2011, hier: Das Dachauer KZ-Außenkommando Radolfzell, S. 270-277.

4 Sigbert E. Kluwe: Glücksvogel. Leos Geschichte, Baden-Baden 1990

5 Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen (Hg.): Leonhard Oesterle. Skulpturen. Vom 21. April bis zum 16. Juni 1991. Ausstellungskatalog. Bietigheim-Bissingen 1991

Todesmeldung im Toronto Star

Nachruf in der 'Stuttgarter Zeitung'

Nachruf in der online-Zeitung 'Bietigheim Digital' 

Die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen zum Werk Oesterles, anlässlich der Ausstellung 2005/6

Literatur:

Sigbert E. Kluwe: Glücksvogel. Leos Geschichte. Baden-Baden 1990.

Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen (Hg.): Leonhard Oesterle. Skulpturen. Vom 21. April bis zum 16. Juni 1991. Ausstellungskatalog. Bietigheim-Bissingen 1991.

Royal Canadian Academy of Arts (Hg.): Leonhard Oesterle - Sculpture. Oakville (Ontario) 1992.

Weblinks:

Archiv-Seite des Ontario College of Art and Design, Toronto, zur Erinnerung an Leonhard Oesterle

http://de.wikipedia.org/wiki/Leonhard_Oesterle

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Berlin, Motzstraße 51 (vormals Nr. 60) - Stolpersteine für Edith und Walter Herzberg.

Fotografie: Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg, Museen und Archiv.

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Walter Herzberg (* 7. Juli 1898 in Königsberg (Preußen); † 3. April 1943 in Auschwitz) war ein deutscher Grafiker und Karikaturist.

Leben und Werk

Herkunft und Ausbildung

Walter Herzberg wurde 1898 als Sohn jüdischer Eltern, des damaligen Chefredakteurs der Hartungschen Zeitung, Gustav Herzberg (?-1913), und dessen Frau Rose Landsberg (1874- vmtl. 1943) in Königsberg geboren. Nach dem frühen Tod Gustav Herzbergs im Jahr 1913 zog Rose Herzberg mit ihren beiden Kindern Ilse und Walter zurück nach Berlin, woher sie 1895 mit ihrem Mann gekommen war und wo auch die übrige Familie noch lebte. Walter Herzberg bestand dort 1916 das kriegseingeschränkte „Notabitur“ und begann an der Berliner Kunstakademie in der Zeichenklasse von Alfred Thon ein Kunststudium, meldete sich aber noch im selben Jahr freiwillig zum Militär. Nach der Rekrutenausbildung 1916/17 in Allenstein kam Herzberg als Infanterist an die Front nach Frankreich und war mit wenigen Unterbrechungen bis kurz vor Kriegsende im Einsatz. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und seiner Fronterlebnisse entwickelte Herzberg eine pazifistische Grundeinstellung und eine allem Militärischen gegenüber kritische Haltung, die sich in seinen späteren Karikaturen niederschlagen sollte.

Herzberg heiratete 1919 seine Jugendfreundin Edith Wunderlich (1896-1943) in Berlin. 1920 wurde ihr Sohn Klaus Herzberg (Namensänderung nach 1938 in Daniel Dishon) geboren. Wohl unter Vermittlung von Alfred Thon fertigte der 22jährige Herzberg acht Federzeichnungen für die 1921 im Berliner Axel Juncker Verlag veröffentlichte, illustrierte Ausgabe von Gottfried Kellers Märchen Spiegel, das Kätzchen. Um der in Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren grassierenden Lebensmittelknappheit und Inflation zu entgehen, zog der damals arbeits- und mittellose Walter Herzberg mit seiner Familie zunächst für zwei Jahre zu seiner Schwester nach Klausenburg und setzte von dort seine Kunststudien sporadisch fort, bevor er 1923 in Obernigk bei Breslau zu einem Bruder seiner Frau zog. Dort versuchte er als zeitweiliger Mitarbeiter einer Bank die Fortsetzung seines Studiums an der Kunstakademie Breslau zu finanzieren. Die Breslauer Zeit 1923-1925 wurde zur wichtigsten Station seiner künstlerischen Ausbildung: Herzberg wurde in die Malklasse von Otto Mueller aufgenommen, der ihm ein bewundertes Vorbild blieb und von dem er die für ihn entscheidenden Anregungen für sein späteres Schaffen bekam, was bereits die wenigen überlieferten Radierungen aus dieser Zeit belegen.[1]

Wohl aus finanziellen Gründen und um seiner Familie eine sichere Existenzgrundlage zu schaffen, entschloss sich Herzberg 1925 einen Antiquitäten- und Kunstgewerbehandel in Baden-Baden zu eröffnen. Das Projekt schlug fehl und er kam bereits nach zwei Jahren zurück nach Berlin, wo zwischenzeitlich auch wieder seine Frau und sein Sohn lebten.

Die Berliner Jahre als Karikaturist

Am 14. Oktober 1927 erschien Herzbergs erste Karikatur für die prominente satirische Wochenbeilage Ulk [2] des Berliner Tageblatts. Dies markierte den Beginn einer regelmäßigen Arbeit für diese bedeutende Zeitung, deren Wochenbeilage Herzbergs Zeichnungen bis 1931 in ansteigender Häufigkeit, zuletzt fast wöchentlich und oft auch das Titelblatt illustrierten. Herzbergs Karikaturen, die gelegentlich auch in den Lustigen Blättern (1927/28) bzw. in der Neuen Revue (1930/31) erschienen, waren nur zum geringen Teil heitere Persiflagen und Ironisierungen der kulturellen Erscheinungen der Zwanziger Jahre: des Tonfilms, der Bühne mit dem Ausdruckstanz oder von Aspekten des Literaturbetriebs.[3] Überwiegend reflektierten die rund zweihundert für den Ulk zwischen 1927 und 1931 entstandenen Zeichnungen pointiert und kritisch die wirtschaftliche und soziale Verelendung der Menschen [4], das in den Augen Herzbergs fragwürdige und oft absurde Gebaren der Parteienpolitik der Weimarer Republik und vor allem die Gefährdung der jungen Demokratie durch die politische Radikalisierung der Nationalsozialisten. Deren Geistlosigkeit und soziale Demagogie wurden von Herzberg ebenso herausgestellt wie die Zusammenhänge zwischen Adolf Hitler und den finanzgewaltigen Kräften im Weimarer Staat.[5] Während Herzbergs Ansehen als Karikaturist des Ulk wuchs, fanden die verhältnismäßig wenigen, ihm gleichwohl sehr wichtigen ‚freien’ Arbeiten, die neben seiner beruflichen Tatigkeit als Karikaturist entstanden – vor allem Radierungen, Holz- und Linolschnitte – kaum Beachtung.[6]

Flucht, Verfolgung, Deportation und Tod

Die offenkundige und zunehmende Gefahr des Nationalsozialismus Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre veranlassten Herzberg in seinen Zeichnungen zu immer präziser werdenden, politischen Stellungnahmen. Zusätzlich zu den Arbeiten am demokratisch und liberal ausgerichteten, letztlich aber als „gemäßigt“ geltenden Ulk entstanden Karikaturen für die deutlicher linksgerichtete, satirisch schärfere Wochenzeitung Die Ente, die in den Jahren 1931-33 erschien und bei der Herzberg noch Anfang 1933 drei Zeichnungen veröffentlichte. Nicht nur diese politisch eindeutigen Arbeiten für eine bei den Nationalsozialisten als kommunistisch geltenden Wochenschrift, sondern die persönlich drohende Verfolgung aufgrund seiner jüdischen Herkunft haben Herzberg im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme bewogen, Deutschland zu verlassen. Über die Schweiz flüchtete er nach Frankreich, das damals Flüchtlingen aus Deutschland zwar Aufenthaltsgenehmigungen erteilte, nicht aber das Recht, dort Arbeit aufzunehmen. Sein Pariser Aufenthalt stand so im Zeichen der drängenden Armut, fehlender Arbeitsmöglichkeit und Aussicht, seine Familie nachkommen zu lassen und wurde mit dem für Herzberg letztlich verhängnisvollen Entschluss beendet, im Herbst 1935 nach Berlin zurückzukehren. An eine auf künstlerische Tätigkeit gegründete Existenz im nationalsozialistischen Deutschland war nicht mehr zu denken und Herzberg begann, in der einem Onkel mütterlicherseits gehörenden Großhandelsfirma bis zu deren Arisierung 1936 mitzuarbeiten.

Nachdem es dem Ehepaar Herzberg 1938 gelungen war, wenigstens für ihren Sohn eine Einreisebewilligung nach Palästina zu erlangen, versuchten Edith und Walter Herzberg, ihre eigenen Auswanderungspläne zu verwirklichen, was jedoch nicht mehr gelang. Vermutlich zum Schuljahr 1938/39 wurde Walter Herzberg Zeichenlehrer an der neu eingerichteten VI. Privaten Volksschule der jüdischen Gemeinde (Choriner Str. 74), später an der an die Synagoge Rykestraße angegliederten III. Privaten Volksschule der jüdischen Gemeinde (Rykestr. 53) und unterrichtete dort bzw. in Ausweichquartieren bis zur Zwangsschließung am 30. Juni 1942. Edith und Walter Herzberg wurden 1939 zunächst aus wirtschaftlichen Gründen genötigt, ihre bisherige Wohnung (Uhlandstr. 110) aufzugeben und mussten mit Beginn des Jahres 1940 zusammen mit Verwandten mehrmals in kleiner werdende Wohnungen in sogenannten Judenhäusern umziehen. Infolge der seit Kriegsbeginn verschärften Maßnahmen gegenüber Juden in Deutschland, die innerhalb kürzester Zeit zur vollkommenen Entrechtung und sozialen Isolation, schließlich zu den Deportationen in die Vernichtungslager führten, wurde Walter Herzberg im Herbst 1942 auf Anweisung der Gestapo als ‚Ordner’ beziehungsweise Hilfskraft der Jüdischen Kultusgemeinde Berlins zwangsverpflichtet. Seine ‚Botentätigkeit’ bestand darin, den von der Gestapo in Listen und Karteien erfassten Bewohnern der ‚Judenhäuser’ die schriftlichen Deportationsbefehle auszuhändigen, des Inhalts, sich noch am selben oder am nächsten Tag in den Sammellagern im Stadtgebiet einzufinden; dies betraf 1942 auch die eigenen Verwandten, Onkel und Tante, mit denen die Herzbergs bis zuletzt zusammenwohnten. Herzbergs Mutter, Rose Landsberg, wurde am 23. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie vor dem 27. September 1943 starb. Walter Herzberg führte den ihn bedrängenden Dienst als ‚Ordner’ der Jüdischen Gemeinde bis Mitte Februar 1943 aus, was ihn von der eigenen Deportation zu retten schien. Als die Deportationen der noch in Berlin lebenden Juden bereits begonnen und in der sogenannten Fabrikaktion bis zum 27. Februar 1943 alle jüdischen Zwangsarbeiter in den Rüstungsbetrieben erfasst wurden, um deportiert zu werden, erfolgte eine letzte ‚Versetzung’ Herzbergs. Für einige Wochen musste er als Buchbinder in der aus geraubten jüdischen Buchbeständen bestehenden „Judenbibliothek“, Teil der „Zentralbibliothek“ im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Amt VII, Eisenacherstr. 12, arbeiten (Gruppe von Ernst_Grumach), bevor er mit seiner Frau Edith am 8. März 1943 in ihrer Wohnung von der Gestapo abgeholt und am 12. März 1943 im 36. sogenannten „Osttransport“ nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Von den 964 Juden, die in diesem Transport des RSHA aus Berlin am 13. März in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion nur 218 Männer und 147 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen.[7] Walter Herzberg bekam die Häftlingsnummer 107842 und wurde dem angegliederten Konzentrationslager Auschwitz III (Monowitz) zugewiesen. Sein Name und seine Häftlingsnummer erscheinen kurze Zeit später in einem Verzeichnis von Häftlingen, die im ‚Häftlingskrankenbau’ Monowitz ‚behandelt’ wurden, mit dem Vermerk: „entlassen aus dem Häftlingskrankenbau: 31. März 1943“. Das ‚Krematoriumsverzeichnis' von Auschwitz vermerkt schließlich am 3. April 1943 neben der jetzt namenlosen Häftlingsnummer das Todesdatum Walter Herzbergs. Seine Frau Edith wurde in Auschwitz-Birkenau nicht mehr als Häftling registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft ermordet.[8]

Alle Original-Zeichnungen bzw. Karikaturen Walter Herzbergs sind in einem privaten Depot 1944 infolge eines Luftangriffs verbrannt. Nur wenige der übrigen druckgrafischen Arbeiten sind durch die Familie privat überliefert.

Zum 100. Geburtstag Walter Herzbergs im Jahr 1998 veranstaltete das Bezirksamt Berlin-Neukölln eine Werkausstellung, zu der unter Federführung der Historikerin Barbara Schieb ein Katalog-Werkverzeichnis, ergänzt um biographische und kunsthistorische Beiträge, u.a. von der Herausgeberin, Herzbergs Sohn Daniel Dishon und seinem Neffen Hans Loew, erschien.[9] In der Begegnungsstätte Alte Synagoge, Wuppertal wurde die Ausstellung 1999 nochmals gezeigt, bei der in einem Begleitprogramm an das legendäre Romanische Café der Literaten und Künstler Berlins erinnert wurde, in dem auch Herzberg verkehrte.

Im Jahr 2006 kam es in der Motzstraße 51 (vormals Nr. 60) im Berliner Bezirk Schöneberg zu einer Stolperstein-Verlegung für Edith und Walter Herzberg.


Literatur:

Keller, Gottfried: Spiegel das Kätzchen. Ein Märchen. Mit Zeichnungen von Walter Herzberg. Berlin, Axel Juncker Verlag (1921).

Haese, Klaus / Schütte, Wolfgang U.: Frau Republik geht Pleite. Deutsche Karikatur der Zwanziger Jahre. Kiel, Neuer Malik Verlag 1989; hier zu und mit Beispielen von W. Herzberg: S. 36 f.

Schieb, Barbara (Hg.): Walter Herzberg. Künstler, Karikaturist, Humanist 1898-1943. Hamburg, Dölling und Galitz Verlag 1998.

Einzelnachweise

1. Vgl. hierzu die Abbildungen der frühen Radierungen (um 1927) in: Schieb, Barbara (Hg.), Walter Herzberg. Künstler, Karikaturist, Humanist 1898-1943, Hamburg 1998, S. 27 f. 

2. Ulk. Illustriertes Wochenblatt für Humor und Satire (1914-1930) – Vollständiges Digitalisat der Jahrgänge 1927-1930 (UB Heidelberg)

3. Vgl. etwa Herzbergs Titelblatt Zwei Machthaber (Thomas Mann und Max Schmeling) in Nummer 48, 29 November 1929. - - digital

4. Vgl. etwa Herzbergs Karikatur Deutschland geht’s gut in Nummer 3, 18. Januar 1929. –digital

5. Vgl. u.a. etwa Herzbergs Titelblatt Nationalsozialistische Wahlerfolge in Nummer 27, 4.Juli 1930. - digital

6. Vgl. hierzu Abbildungen und grundlegende Erläuterungen zum überlieferten druckgrafischen Werk Herzbergs von Hans Loew: Walter Herzberg - Ein Leben der Linie gewidmet, in: Schieb, Barbara (Hg.), Walter Herzberg. Künstler, Karikaturist, Humanist 1898-1943, Hamburg 1998, S. 23-31.

7. Vgl. Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 440.

8. Diese Angaben sind Ergebnis einer im Oktober 2010 vom Verfasser in Auftrag gegebenen Recherche durch den Internationalen Suchdienst (ITS), Bad Arolsen.

9. Schieb, Barbara (Hg.): Walter Herzberg. Künstler, Karikaturist, Humanist 1898-1943. Hamburg, Dölling und Galitz Verlag 1998.Weblinks

Weblink: Ulk. Illustriertes Wochenblatt für Humor und Satire (1914-1930) – Vollständiges Digitalisat der Jahrgänge 1927-1930 (UB Heidelberg)

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Erich Ludwig Loewenthal (* 16. März 1894 in Berlin; † vmtl. März 1943  in Auschwitz-Birkenau) war ein deutscher Neuphilologe, Literaturwissenschaftler, Studienrat und Herausgeber.

Leben

Erich Loewenthal wurde am 16. März 1894 als erstes von vier Kindern jüdischer Eltern, des Kaufmanns Adolf Loewenthal (1871 - 1939) und dessen Frau Flora, geborene Seidenberg (Breslau 1868 - 1943 im Ghetto Theresienstadt), in Berlin geboren. Von 1903 bis zu seinem Abitur 1912 besuchte er das Königstädtische Gymnasium in Berlin. Noch im Abiturjahr begann Loewenthal das Studium der Germanischen, Romanischen und Klassischen Philologie sowie der Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Kriegsbedingt musste er das Studium 1915 unterbrechen und diente bis  Kriegsende 1918 als Militärdolmetscher bei den Kommandanturen der Kriegsgefangenenlager Celle (Cellelager) und Soltau. Das wieder aufgenommene Studium an der Berliner Universität schloss Loewenthal mit der Dissertationsschrift Studien zu Heines 'Reisebildern' und der Promotion zum Dr. phil. 1920 ab.[1] Der promovierte Philologe entschied sich gegen eine akademische Laufbahn, wurde 1920 Studienreferendar am Bismarck-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf und war als Studienrat bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 im öffentlichen Schuldienst Berlins tätig. Auf Grundlage des am 7. April 1933 erlassenen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, mit dem die Nationalsozialisten u.a. die formale Rechtsgrundlage zur Entlassung von jüdischen, Lehrern und Schulleitern schufen, wurde Loewenthal aus dem öffentlichen Schuldienst „entfernt“. Als Lehrer fand er letztmals Anstellung an der Jüdischen Oberschule (Große Hamburger Str. 27) in Berlin, wo er bis 1938 wirkte. Loewenthal, der sich mit seiner Dissertation, zwei von ihm 1925 herausgegebenen Bänden mit Heines literarischem Nachlass und in germanistischen Fachzeitschriften längst als Heine-Kenner ausgewiesen hatte, lernte in dieser Zeit den Berliner Verleger Lambert Schneider kennen, dessen Freund und engster Mitarbeiter er wurde. Erste Aufgabe Loewenthals war es, den an Lambert Schneider gekommenen wissenschaftlichen Handapparat des  Marburger Heine-Herausgebers Prof. Ernst Elster bibliographisch zu erfassen. Im 1931 gegründeten Schocken Verlag, dessen Geschäftsführer Lambert Schneider geworden war, konnte Loewenthals Edition von Heines Romanfragment Der Rabbi von Bacherach 1937 als 80. Band der Schocken-Bücherei erscheinen. Nachdem in der Folge der Novemberpogrome 1938 der Schocken-Verlag liquidiert werden musste, erschienen im Verlag Lambert Schneider zwischen 1939 und 1942 die von Erich Loewenthal edierten, jedoch ohne Namensnennung des Herausgebers veröffentlichten Klassiker-Ausgaben u.a. der Werke Shakespeares und dessen Zeitgenossen (1939/40), der Komödien des Aristophanes (1940) und der sämtlichen Dialoge Platons (1940), die das Gesicht des Verlages für 50 Jahre bestimmen sollten. Loewenthal, dessen Bemühungen um eine Auswanderung gescheitert waren, lebte in diesen Jahren der zunehmenden Entrechtung, Isolation und Verfolgung der Berliner Juden zusammen mit seiner Mutter - sie wurde am 17. März 1943 nach Theresienstadt deportiert - und seiner Schwester Erna (geb. 1896) bis 1941 in Berlin-Charlottenburg, Küstriner Str. 14 (heute Damaschkestr.) und zuletzt in einem so genannten Judenhaus, Waitzstr. 7, das zum Ort mehrerer geheimer Arbeitstreffen mit seinem Verleger wurde. Auf Anweisung der Gestapo beziehungsweise durch Überstellung durch die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland wurde Loewenthal ab dem 3. November 1941 zur Zwangsarbeit herangezogen. Zusammen mit zunächst sieben, später in einem Kontingent von bis zu 25 jüdischen Zwangsarbeitern in der Gruppe von Ernst Grumach, arbeitete Loewenthal in der aus geraubten jüdischen Buchbeständen bestehenden, in laufendem Aufbau befindlichen, zu katalogiserenden und aufzustellenden „Judenbibliothek“ als Teil der „Zentralbibliothek“ im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Amt VII, Eisenacherstr. 12.[2] .

Am 12. März 1943 wurde Loewenthal im 36. sogenannten „Osttransport“ ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Von den 964 Juden, die in diesem Transport des RSHA aus Berlin am 13. März in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der „Alten Rampe“ nur 218 Männer und 147 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen.[3] Erich Loewenthal wurde in Birkenau nach bisherigem Kenntnisstand nicht mehr als Häftling registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft am 13. März 1943 in der Gaskammer ermordet; ebenso wie seine Schwester Erna Loewenthal, die mit demselben Transport nach Auschwitz kam. Auf der überlieferten „Eingangsmeldung“ (Funkspruch) an das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt formulierte der zuständige Leiter der Abteilung Arbeitseinsatz in Auschwitz, SS-Obersturmführer Heinrich Schwarz, im Jargon der Täter: „K. L. Auschwitz meldet Judentransport aus Berlin. Eingang am 13.3.43. Gesamtstärke 964 Juden. Zum Arbeitseinsatz kamen 218 Männer und 147 Frauen. (...). Gesondert wurden 126 Männer u. 473 Frauen u. Kinder untergebracht.“[4]

Werke

Erich Loewenthal: Studien zu Heines „Reisebildern“ (= Palaestra 138), Berlin und Leipzig, Mayer und Müller 1922.

Heinrich Heine: Der lyrische Nachlass von Heinrich Heine. Gesichtet von Erich Loewenthal. (= Werke in Einzelausgaben und Bildern aus seiner Zeit, Band 11). Hamburg 1925.

Heinrich Heine: Der Prosa-Nachlass von Heinrich Heine. Neu geordnet, gesichtet und eingeleitet von Erich Loewenthal. (= Werke in Einzelausgaben und Bildern aus seiner Zeit, Band 12). Hamburg 1925.

Heinrich Heine: Der Rabbi von Bacherach. Ein Fragment. Mit den zugehörigen Briefen Heines und mit einem Nachwort von Erich Loewenthal. Berlin, Schocken 1937.

William Shakespeare: Dramatische Werke. Übersetzt v. August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. 3 Bde. Hrsg. v. Erich Loewenthal. Berlin, Lambert Schneider 1939.

Aristophanes: Die Komödien. Übersetzt und erläutert von Ludwig Seeger. 2 Bde. Hrsg. v. Erich Loewenthal. Berlin, Lambert Schneider 1940.

Platon: Sämtliche Werke. Deutsch von Friedrich Schleiermacher, Franz Susemihl u.a. 3 Bde. Hrsg. v. Erich Loewenthal. Berlin, Lambert Schneider 1940.

Shakespeares Zeitgenossen. 2 Bde. Hrsg. v. Erich Loewenthal und Lambert Schneider. Berlin, Lambert Schneider 1940.

Italienische Novellen. 3 Bde. Hrsg. v. Erich Loewenthal. Berlin, Lambert Schneider 1942.

Sturm und Drang - Kritische Schriften. Plan und Auswahl von Erich Loewenthal. Posthum hrsg. v. Lambert Schneider. Heidelberg, Lambert Schneider 1949.

Sturm und Drang - Dramatische Schriften. Plan und Auswahl von Erich Loewenthal. Posthum hrsg. v. Lambert Schneider. Heidelberg, Lambert Schneider 1959.


Literatur

Lambert Schneider: Rechenschaft über vierzig Jahre Verlagsarbeit 1925-1965. Ein Almanach. Heidelberg, Verlag Lambert Schneider 1965’’; hier: Erich Loewenthal, S. 55 – 57.

Hildebrand, Olaf: Erich Ludwig Loewenthal, in: Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, Band 2 (H-Q). Hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Berlin, Walter de Gruyter 2003, S. 1109 f. Einzelnachweise

Anmerkungen

1  Die Dissertation wurde leicht überarbeitet veröffentlicht: Erich Loewenthal: Studien zu Heines „Reisebildern“ (= Palaestra 138), Berlin und Leipzig, Mayer und Müller 1922.

2  Vgl. hierzu das überlieferte Schreiben des RSHA, Amt VII an das Amt IV, B 4 (Adolf Eichmann) vom 14. Oktober 1941, in dem Loewenthal als achter der "als brauchbar für die hiesige Arbeit" bezeichneten jüdischen „Bibliothekare“ genannt wird; in: Dov Schidorsky: Confiscation of Libraries and Assignments to Forced Labor. Two Documents of the Holocaust. In: Libraries & Culture 33, 1998, S. 347–388 (PDF-Datei)

3 Vgl. Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 440.

4. Vgl. den Abdruck des Funkspruchprotokolls an das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in: Andreas Engwert und Susanne Kill: Sonderzüge in den Tod. Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn, Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag 2009, S. 104.

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